„Meine Familiengeschichte
hat meine Arbeit entscheidend geprägt“



Zahlreiche Beiträge hat Muriel Mirak-Weissbach zu den unterschiedlichsten Themen, von Arabischer Renaissance bis Shakespeare, in Kulturzeitschriften und politischen Magazinen veröffentlicht. Ihre große Leidenschaft für einen Dialog der Kulturen und eine gerechte Welt führten sie zum politischen Journalismus. Seit Jahrzehnten engagiert sie sich für die Überwindung von Hass und Vorurteilen im Nahen und Mittleren Osten.

Das Domizil von Muriel Mirak-Weissbach und ihrem Mann Michael liegt versteckt in der zweiten Reihe an einer vielbefahrenen Straße in Wiesbaden. Ein schmaler Weg führt durch den idyllischen Garten zu dem schlichten Wohnhaus. Kalligrafien in arabischen Schriftzeichen an den Wänden, Kissen und Decken aus farbenprächtigen Stoffen im gemütlichen Wohnraum zeugen von zahlreichen Reisen in den Orient. Der Schreibtisch am Fenster quillt über von verschiedenen Unterlagen. „Ich habe gerade ein Buch über Kinder als Opfer von Krieg und Völkermord geschrieben und dazu sehr viel Material gesammelt“, erklärt sie entschuldigend. „Ich möchte beschreiben, was Völkermord, Krieg und ethnische Säuberung für Kinder bedeutet, welches Trauma die Opfer dabei erlitten haben. Nur wenn wir ihr Leid wirklich verstehen, können wir Wut, Hass und Rachgier überwinden und von Feindseligkeit geprägte Beziehungen neu gestalten.“ In ihrem Buch beschäftigt sie sich auch mit den historischen Hintergründen des Völkermords und identifiziert die politischen Kräfte, die in ihrem geopolitischen Spiel ganze Völker und Nationen als bloße Objekte behandeln und in künstlich inszenierten Konflikten gegeneinander aufhetzen.

Motivation für ihre Arbeit ist zum großen Teil ihre eigene Familiengeschichte. Die Journalistin wuchs als Kind armenischer Einwanderer in der Nähe von Boston auf. Ihre Eltern wurden beide im Jahr 1915 zu Waisen, zu Opfern des Völkermords an den Armeniern. Sie verloren ihre ganze Familie und überlebten nur, weil sie von Türken gerettet wurden und durch die Hilfe entfernter Verwandter nach Amerika gelangten. „Ich habe erst viel später, als ich erwachsen wurde, wirklich begriffen, was das bedeutete, doch waren meine Weltsicht und meine Arbeit schon von früh auf von diesem Familienschicksal geprägt.“ Sie erinnert sich an sonntägliche Familientreffen, bei denen das Wort „Massaker“ fiel. Aber das kleine Mädchen verstand damals nicht, warum die Frauen immer in Tränen ausbrachen. Doch ahnten sie und ihre drei älteren Brüder, dass ihren Eltern etwas Schreckliches zugestoßen sein musste.

„Meine Eltern vermittelten mir und meinen Brüdern den Eindruck von großem Optimismus und Entschlossenheit.“ Vor allem der tiefreligiöse Vater sah in seinem Überleben des Völkermords einen Sinn und eine Verpflichtung. Er regte seine Kinder an, sich mit den Werken großer Denker vertraut zu machen und viel zu lesen. Die Eltern brachten jedes erdenkliche Opfer, um den Kindern eine gute Schul- und Berufsausbildung zu ermöglichen. So konnte die Tochter das Wellesley-College besuchen, eine der besten privaten Hochschulen für Frauen in den USA. Sie studierte Anglistik und hörte kunsthistorische Vorlesungen. 1964 unternahm sie ihre erste Europareise und war überwältigt von der Schönheit der italienischen Renaissance-Städte. „Ich weiß nicht, wie oft ich während dieser Reise immer wieder nach Florenz gefahren bin“ erzählt sie lachend. Mit einem Fulbright-Stipendium kehrte sie nach Italien zurück. Fünfzehn Jahre lebte sie in dem Land, bevor sie nach Wiesbaden kam. Sie war auf dem besten Weg zu einer wissenschaftlichen Karriere an der Mailänder Universität, als die 68er-Bewegung ihr politisches Interesse weckte. Sie begann sich mit wirtschaftspolitischen Themen und Entwicklungspolitik zu beschäftigen und schrieb journalistische Beiträge für internationale Nachrichtenmagazine. Ihr Engagement für eine gerechte Weltwirtschaftsordnung führte sie in viele Länder der 3. Welt. Vor allem der Nahe und Mittlere Osten und seine alten Kulturen faszinierten sie.

Tief geschockt verfolgte sie in der Nacht vom 17. Januar 1991 zuhause am Bildschirm die Angriffe US-amerikanischer Kampfbomber gegen den Irak. Gemeinsam mit Menschenrechtsaktivisten und UNO-Vertretern gründete sie das Komitee zur Rettung der Kinder im Irak. „Wir wollten die Öffentlichkeit wachrütteln und ihr vor Augen führen, was Krieg und Sanktionen den Kindern vor Ort angetan haben.“ Gemeinsam mit ihrem Mann Michael begleitete sie am 7. Juli 1991 den ersten Hilfsflug mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und medizinischem Material nach Bagdad. Was sie in den Krankenhäusern vorfanden, die sie besuchten, berührte sie zutiefst. „Ich sah Mütter, die teilnahmslos neben ihren völlig abgemagerten Säuglingen saßen, Kinder mit schweren Verbrennungen. Viele litten unter infizierten Wunden, weil überall Medikamente fehlten. “ Es gelang dem Komitee, Dutzende von Kindern auszufliegen und in deutschen Kliniken behandeln zu lassen. „Wir haben mit unserer Aktion die Nachrichtensperre durchbrochen“ erklärt sie stolz. „Die Geschichte der einzelnen Kinder sagte mehr über die Opfer dieses Krieges aus als jede Statistik.“

Die Erlebnisse mit den irakischen Kindern waren eine schicksalhafte Erfahrung für die Journalistin. Als sie 1992 bei einem Familienbesuch in den USA ihren Eltern einige Fotos der irakischen Kinder zeigte, lösten die Bilder im Gemüt ihrer Mutter eine regelrechte Explosion aus und sie erzählte auf einmal Geschichten aus ihrer eigenen Kindheit, die sie tief verdrängt hatte. „Da wurde mir erst klar, was es bedeutet, wenn Kinder Zeugen eines furchtbaren Geschehens werden, das sie noch gar nicht verstehen können. Nur wer begreift, wie tiefgreifend solche traumatischen Erfahrungen auf die kindliche Seele wirken, kann verstehen, dass Vorurteile, Hass und Rachegelüste so lange von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden können, bis die Konflikte schließlich unlösbar erscheinen.“

Dieses bewegende Erlebnis motivierte sie dazu, die historischen und geopolitischen Hintergründe von Völkermord und Krieg intensiver zu untersuchen. Auf ihren Reisen nach Gaza lernt sie die tragische Situation der Palästinensischen Flüchtlinge kennen. Auch hier sind Kinder die Hauptleidtragenden der geschichtlichen Tragödie.

Schließlich reift der Entschluss ihre persönlichen Erfahrungen an den Beispielen Armenien, Irak, Palästina in einem Buch zu verarbeiten. „Ich wollte beschreiben, wie tief die emotionalen und psychologischen Wunden sind, die Kinder durch Völkermord und Krieg erleiden.“ Doch ihr Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, wie Versöhnung und ein dauerhafter Friede zwischen Völkern und Nationen herbeigeführt werden kann. Sie ist überzeugt, dass es Lösungen gibt, aber es erfordere Mut, die historischen Fakten aufzuarbeiten und die von Feindseligkeiten geprägten Beziehungen neu zu gestalten. Dabei komme der Kultur, großer Musik und Poesie, eine wichtige Rolle zu. Begeistert berichtet sie von einem Konzert in Berlin am 12. Januar 2009, bei dem sie Daniel Barenboim mit seinem israelisch-arabischen Orchester erlebte. Diese Form des Kultur-Dialoges wecke das Verständnis füreinander und sei eine wichtige Voraussetzung für ein friedliches Miteinander. „Mein Buch ist eine Bilanz meiner Familiengeschichte und meiner persönlichen Erfahrungen. Wenn es mir gelingt, meine Leser dazu zu bewegen, ihre Ansichten über diese Tragödien neu zu überdenken, dann bin ich dafür dankbar.“

Die Autorin Maria Schmitz ist Fachjournalistin für Kultur und Geschichte und Inhaberin des Biografie-Instituts www.biografie-institut.de