Muriel Mirak-Weißbach (2011):
Jenseits der Feuerwand: Armenien – Irak – Palästina. Vom Zorn zur Versöhnung.,

Berlin/Tübingen: Schiler-Verlag,
Broschur, 263 Seiten,
ISBN-10: 3899303687,
€ 26,–


Armenien: Wie war das doch nochmal? Vor knapp einem Jahr, kurz nach Erscheinen des vorliegenden Buches, versuchte der damalige französische Präsident Nicolas Sarkozy das Leugnen von Völkermorden unter Gefängnisstrafe zu stellen. Die türkische Regierung, die sich hinsichtlich der Massaker an Armeniern während des Ersten Weltkriegs im Osmanischen Reich angegriffen fühlte, reagierte prompt wie immer, wenn andere Staaten den Genozid an den Armeniern anerkennen – mit „archaischer Drohdiplomatie“.
Irak: Wie war das eigentlich? Ältere Leser werden sich noch gut erinnern an die Nacht vom 17. Januar 1991, als die ersten Kampfbomber und Marschflugkörper einer US-geführten Militärallianz Angriffe gegen den Irak flogen und in den anschließenden Wochen B- 52-Bomber das Land an Euphrat und Tigris, die Geburtsstätte der menschlichen Zivilisation, in Schutt und Asche legten. Angeblich ein ‚alternativloser‘ Krieg, der medial spektakulär als war games inszeniert wurde.
Palästina: Wieso erinnern? Konflikte zwischen Palästinensern und Israeli sind doch seit Gründung des Staates Israel vor nunmehr 65 Jahren Dauerthema und blutige Gegenwart; – und ist das nicht endlich ein Schritt zur friedlichen Zweistaatenlösung, dass Palästina Beobachterstaat in der UNO wurde –,oder etwa doch nicht?

Was wissen wir eigentlich über die Geschichte der drei erwähnten Völker, über die politischen Hintergründe der sie betreffenden Kriege, Massaker, Deportationen, Vertreibungen und Ausgrenzungen? Wie steht es mit der in den Geschichtsbüchern vermittelten Wahrheit? – Wohl mit Recht sagt ein englisches Sprichwort: A lie will go round the world while truth is pulling its boots! Muriel Mirak-Weißbach ist gestiefelt und gespornt, um der ‚wahren‘ Wahrheit zur Ehre zu verhelfen. Nach Anglistikstudium und langjähriger Lehrtätigkeit kämpft sie seit den 1980er Jahren als Journalistin mit großem Engagement für Menschenrechte, wobei ihr publizistischer Schwerpunkt die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten sind. Ihr Hauptanliegen ist die Förderung des interkulturellen Dialogs und die Suche nach der historischen Wahrheit als wesentliche Grundlage jeder Aus- und Versöhnung. Das vorliegende Buch ist geprägt durch ihre familiäre Herkunft als Enkelin armenischer Großeltern, die Opfer des Massakers von 1915 waren, sowie als Tochter verwaister Eltern, denen es über abenteuerliche Umwege gelang, nach Neu-England auszuwandern.
Mirak-Weißbachs Darstellung ist zweigleisig: Einerseits handelt es sich um eine sehr persönliche Schilderung des schrecklichen Leids der Armenier, welches sie vorbehaltlos als Völkermord kategorisiert, sowie um die kaum fassbaren Qualen und erschütternden Schicksale irakischer Kinder, die die westlichen Alliierten im Irakkrieg unter dem euphemistischen Begriff ‚Kollateralschäden‘ verbuchten und geopolitisch als militärisch gerechtfertigt erachteten. Und schließlich geht es um das generationenlange Leiden der Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen, ein Zustand, der entgegen aller internationalen Friedensabkommen und UN-Resolutionen alltäglich geworden ist. Andererseits handelt es sich um detaillierte, intensiv begründete historisch-politische Hintergrundanalysen der drei ausgewählten Konflikte, um die Ursachen der so folgenschweren Auseinandersetzungen. Dabei werden Perspektiven aufgezeigt, die erkennen lassen, dass einfache Darstellungen und kollektive Schuldzuweisungen an „die Türken“ als Verantwortliche für die Ermordung von eineinhalb Millionen Armeniern, an „die Amerikaner“ als imperialistische Großmacht, die die Iraker fast von der Landkarte getilgt hätten, und an „die Israelis“, die die Palästinenser auslöschen wollten, nicht zutreffen. Muriel Mirak-Weißbach betont ausdrücklich: „Wie wir im 20 Jahrhundert erlebt haben, wird die Politik des Völkermords immer von eindeutig identifizierbaren politischen Kräften geplant, organisiert und durchgeführt, und diese Kräfte werden dabei von genauso eindeutig identifizierbaren finanziellen und politischen Interessen unterstützt.“ Die Autorin versucht darzulegen „wer wem was angetan hat“ (s. S. 12).
Wo die Grenzen einer derartig vernetzten literarischen Aufbereitung persönlicher Erlebnisse und Erfahrungen sowie journalistischer Recherchen liegen, wird jeder Leser letztlich selber beurteilen. Manchen dürften, wie dem Rezensenten, die Schilderungen persönlicher Betroffenheit zu emotionalisiert und die Beschreibung des humanitären Engagements zu egozentrisch erscheinen, insbesondere im Verbund mit der sachlichen historischen Recherche nach den wahren Schuldigen der hier fokussierten humanitären Katastrophen. Anerkennenswert ist der Mut der Verfasserin, einigen Staaten auch höchst unliebsame, bislang kaum bekannte Fakten schonungslos aufzuzeigen; bedenklich ist dagegen, dass sie bezüglich des israelisch-palästinensischen Konflikts befangen erscheint, was Kontroversen auslösen dürfte. Das Fernziel, die Versöhnung der Konfliktparteien, hält die Autorin nur durch dialogische Offenheit für erreichbar, gleichsam dem Gang durch die Feuerwand, den Dante Alighieri in der „Divina Commedia“ beschrieben hat. Das West-Eastern Divan Orchestra, 1999 von dem Palästinenser Edward Said und dem jüdischen Musiker Daniel-Barenboim ins Leben gerufen, gilt der Verfasserin als Beweis, dass Versöhnung prinzipiell möglich ist. Aber wollen das die machiavellistischen geopolitischen Strategen der Führungsmächte auch? Man muss kein Pessimist sein, um daran erheblich zu zweifeln. (wh)
Prof. Dr. Dr. h.c. Winfried Henke henkew@uni-mainz.de