„Die Steine werden aufschreien“



Muriel Mirak-Weissbach – 11. Juli 2011

Abbildungen siehe > Travel > Anatolia

Mitte Juni kam es bei einer Ausstellung der UNESCO in Paris zu einem Skandal. Die Ausstellung zeigte Bilder traditioneller Steinkreuze der armenischen Kirchenkunst, bekannt als Khachkars. Die einzigartigen Skulpturen und Reliefs waren im November 2010 in die repräsentative Liste des unantastbaren Kulturerbes der Menschheit aufgenommen worden. (1) Die Ausstellung stand unter der Schirmherrschaft des Kultusministeriums der armenischen Republik und war in Anwesenheit zahlreicher Diplomaten, Künstler, Historiker und Kirchenvertretern eröffnet worden. Sie hätte eine Anerkennung und Wertschätzung der Khachkar-Tradition werden können, wenn nicht die UNESCO in letzter Minute die Ortsnamen unter den Fotografien gelöscht hätte, wo sich die Khachkars befinden. Nicht nur wurden die Namen der Fundstellen ausgelöscht, sondern auch eine große Landkarte des Historischen Armeniens entfernt, auf der die Fundstellen verzeichnet waren. Das Argument: Da sich die Khachkars nicht alle auf dem Boden der Republik Armenien befänden, sondern auch im heutigen Aserbaidschan und der Türkei, sei es besser, Schweigen zu bewahren.
Aber das Schweigen konnte nicht halten: “Die Steine werden aufschreien”, und das taten sie. Vertreter der Organisation Collectif VAN (Vigilance Armenienne contre le Negationnisme), die bei der Eröffnung anwesend waren, protestierten in einem offenen Brief an die Generaldirektorin der UNESCO Irina Bokova. (2) In dem Brief argumentierten sie, dass es nicht nur gegen die akademische Pflicht verstoße, die Fundstellen von Kunstwerken wie die der Ausstellung zu identifizieren, sondern dass die Aussteller sich durch die Entfernung der Fundorte auch einer unakzeptablen, Geschichtsfälschung mitschuldig machten. Mit der Beseitigung der Namen der Fundorte werde die historische Präsenz der armenischen Bevölkerung und Zivilisation in dieser Großregion vertuscht.
Reisende durch Ostanatolien und das heutige Aserbaidschan werden immer noch auf Khachkars an ihren ursprünglichen Orten stoßen, obwohl Tausende bewußt zerstört wurden, und werden so die richtigen historischen Schlüsse ziehen können. (3) Neben den wunderschönen Steinkreuzen gibt es einen Schatz an religiösen Denkmälern, seien es Kapellen, Kirchen, Kathedralen oder Klöster, die überall in dieser Region von der physischen und geistigen Gegenwart der christlichen Armenier seit dem 4. Jahrhundert Zeugnis ablegen. Der italienische Kunsthistoriker Adriano Alpago Novello hat diese religiöse Kunst als integralen Bestandteil der armenischen Identität ausgemacht. “Das beharrliche Festhalten der Armenier an der christlichen Religion,” so schrieb er, “wie es Tausende von Kreuzen, die überall und zu jeder Gelegenheit gemeißelt und aufgestellt wurden, und die außergewöhnliche Dichte von kostbaren Sakralbauten belegen, war nicht nur eine Frage der Religion, sondern ein Wesensmerkmal der ureigensten Identität und ein Symbol ihres physischen Überlebens.” (4)
Und dennoch wird diese allgegenwärtige Realität immer noch geleugnet und in ein völlig falsches Licht gestellt. Mein Bruder, mein Ehemann und ich haben das während einer Reise durch Ostanatolien im Mai 2011 erfahren können. Statt geschichtlicher Aufklärung stießen wir regelmäßig auf eklatante und dreiste Formen der Geschichtsfälschung, gerade an Orten und ihrer Umgebung, die für die Geschichte der Armenier von großer Bedeutung sind. Historische Ereignisse und ihre Zeugnisse wurden totgeschwiegen, in etwas Anderes verwandelt oder oftmals auch ins Gegenteil verkehrt.

Auf den Spuren unserer Vorfahren.
Wir waren als Teil einer Reisegruppe von Armeniern aus den USA unterwegs, die erstmals die Wurzeln ihrer Eltern und Vorfahren entdecken und die Dörfer und Städte besuchen wollten, wo sie geboren waren und bis zum Völkermord gelebt hatten. Es war wie das Zusammensetzen eines Puzzle. Wir hatten Bruchstücke von unseren Eltern, Namen von Dörfern und Beschreibungen von besonderen Orten. Wir hatten aber auch Augenzeugenberichte über den Völkermord von Johannes Lepsius, Jakob Künzler, Botschafter Henry Morgenthau und anderen. Aber als wir auf eine heute verfügbare Landkarte der Türkei schauten, konnten wir nicht annähernd etwas Nützliches finden. Auch unser deutscher Reiseführer konnte nicht wirklich weiterhelfen.
Ohne unseren Reiseführer Armen Aroyan, der seit 25 Jahren Pilger durch die Region begleitet, und unseren Fahrer, der sowohl türkisch als auch kurdisch sprach, wären wir nicht weit gekommen. Nach mehrmaligem Fragen auf der Fahrt von Arapgir nordwärts fanden wir schließlich Mashgerd, das Dorf meines Vaters. Wir erfuhren, dass es heute nicht mehr Mashgerd sondern Charkirtasch heißt, wie es auch auf dem Schild am Ortseingang zu lesen stand: Chakirtasch Köyüne, Hos Geldiniz - Gemeinde Chakirtasch, herzlich willkommen. Meine Vater hatte seine Heimat in höchsten Tönen gepriesen, die Berge, die Flüsse, die welligen Hügel und grünen Weiden. Und die Landschaft in Maine, Neu England, wo er später ein Sommerhaus besaß, hatte oftmals in ihm Erinnerungen an seine Kindheit in und um Mashgard hervorgerufen. Seine Tante, Anna Mirakian, die ihn später nach dem Krieg fand und in die USA mitnahm, beschrieb die reiche Landschaft des Dorfes in ihren Memoiren als Paradies auf Erden. Sie schrieb: ”Die Menschen von Mashgerd, die ihre Häuser, Felder, Höfe, Obst- und Gemüsegärten verlassen mußten, wurden aus ihrem paradiesischen Geburtsort mit gebrochenem Herzen und Tränen in den Augen vertrieben.” (5)
Die Berge, grünen Hügel und Flüsse waren immer noch da, aber das Dorf war beträchtlich zusammengeschrumpft. Sobald wir aus dem Minibus ausgestiegen waren, kamen die Dorfbewohner aus ihren Häusern, uns zu begrüßen. Dabei zeigten sie die gleiche Gastfreundschaft, der wir überall begegneten. Sie boten uns Ayran an, ein Joghurt-Getränk, das wir als Tun kannten, oder auch Tee. Sie wollten wissen, ob wir nach verborgenen Schätzen suchen wollten. Denn viele Armenier hatten vor ihrer Vertreibung ihre Schätze vergraben in der Hoffnung, sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder zu finden. Nein, versicherten wir ihnen, nicht nach vergrabenen Schätzen, sondern nach Schätzen einer anderen Art suchten wir.
Hier in Mashgerd suchten wir vor allem nach der Kirche, in der nach dem Bericht meines Vaters die Dorfbewohner 4 Tage eingesperrt worden waren, bevor sie zur Exekution weggebracht wurden. “Hier gibt es keine Kirche”, sagten uns die Dorfbewohner zu unserem Verdruß. Es gäbe eine Kirche einige Kilometer entfernt, die wir auch zu Fuß erreichen könnten, aber keine hier im Dorf. Jene Kirche hätte die St. Sargis Kathedrale sein können, über die die Tante meines Vaters geschrieben hatte. In ihren Memoiren hatte sie eine wunderschöne Kirche erwähnt, die im unteren Dorf gelegen sein sollte: “An den Ufern des Euphrat gelegen in einem Dorf Van Gyugh, ein üppiges grünes Dorf mit der großartigen und erhabenen St. Sargis Kathedrale - wo jedes Jahr die Ostermessen gehalten wurden”. (6) Aber das war nicht die Kirche, von der mein Vater gesprochen hatte. Er hatte sie in Mashgerd lokalisiert, mitten im Zentrum des Dorfes. Obwohl also die Dorfbewohner eine solche Kirche nicht kannten, wussten wir, dass es eine Kirche geben müsse. Denn erstens gab es eine Kirche oder mindestens eine Kapelle, wo es eine armenische Gemeinde gegeben hatte, und zweitens hatte mein Vater explizit von einer Kirche mitten in Mashgerd gesprochen. Und seine Tante hatte ihrerseits die Existenz einer Kiche im Dorfzentrum bestätigt.
Nachdem wir also eine zeitlang durch das Dorf geschlendert waren, trafen wir auf einen alten Mann, der tatsächlich eine Kirche - Kilise - im Dorf kannte. Er führte uns einen lehmigen Weg entlang, an einem großen Haus mit dem Dorfbrunnen vorbei und zeigte auf ein großes Gebäude, das auf den ersten Blick gar nicht wie eine Kirche aussah. Es hatte gar nicht die Form einer typisch armenischen Kirche, wie wir sie kannten, mit ihren runden zentralen Strukturen im Zwölf- oder Mehreck angeordnet, mit den typischen Rundbögen und den konischen Kuppeln. Dieses Gebäude war rechteckig und hatte ein flaches Dach. Dann deutete der alte Mann auf bestimmte ebenmäßig gehauene Steine in der Fassade, auf denen eindeutig armenische Buchstaben zu sehen waren: Namen, Daten und die typischen Steinkreuz-Reliefs; dies sind Steine, erklärte unser Reiseführer Armen, die vielleicht einmal Grabsteine gewesen waren und die man häufig in dieser Region für den Bau von Kirchen verwendet hatte. Oder es handelte sich um Steine mit Khachkar-Reliefs, die extra für die Fassade gefertigt worden waren. Dies war also tatsächlich eine Kirche, und es mußte sich um die Kirche handeln, die mein Vater gekannt hatte! Die Form der Kirche stellte sich als eine von vielen traditionellen armenischen Kirchenmustern heraus, die als “Längskirche“ bekannt ist und die z.B. in Artsathi nördlich von Erzurum oder in Dirarklar zu finden ist. (7)Beide sind ohne große Verzierungen, ohne runde Apsiden und haben hölzerne Dächer.
Zurück ins Jahr 1916 - die Menschen wurden nach 4 Tagen aus der Kirche freigelassen und im Zentrum des Dorfes versammelt. Mein Vater war damals 8 Jahre alt. Er spürte, dass etwas Schlimmes zu erwarten war und rannte um sein Leben. Er erreichte das Haus seiner Großmutter, das gerade mal 100 m entfernt war und im Hinterhof einen Stall hatte. Dort versteckte er sich. Ich schritt die 100 m von der Kirche aus in verschiedene Richtungen ab und suchte nach einem Haus, das auf die Beschreibung passen würde. Aber es gab einige davon. Welches war also das Haus seiner Großmutter gewesen? Auch die Tante hatte in ihren Memoiren von einem alten “Kokats - Heu und Stall - im Dorfzentrum” gesprochen, das dasselbe gewesen sein müßte. Aber wo stand es jetzt? Diese Frage konnten wir nicht beantworten.
Das Dorf meiner Mutter Tsack war auch nicht leicht zu finden, denn es war ebenfalls nicht mehr unter diesem Namen bekannt. Es heißt heute Inn auf Türkisch. Was für ein Unterschied zu ihren Beschreibungen! Damals hatte Tsack 100 bis 150 Familien. Heute, so erzählte uns eine Bewohnerin, gab es nur noch 3 Brüder, die mit ihren Familien hier lebten. Die alte Einwohnerin, weit über 70, empfing uns warmherzig. Als sie erfuhr, wir seien Armenier, erzählte sie ihre Geschichte. Es stellte sich heraus, dass auch sie halb armenisch ist, dass ihre Mutter als Kind gerettet worden war und später an einen Türken verheiratet worden war. “Ich erinnere mich nur noch, dass sie den ganzen Tag weinte. Sie hatte alles verloren, alles und jeden, die ganze Familie.” Sie erzählte dann von sich: auch sie sei an einen Türken verheiratet worden, sagte sie wehmütig, “und als Braut habe auch ich immer nur geweint”. Sichtlich von der Erinnerung ergriffen, entschuldigte sie sich: “Ich habe hohen Blutdruck und darf nicht weiter sprechen”.
Der Großvater meiner Mutter war ein wohlhabender Landbewohner mit reichem Acker- und Weideland und Weinbergen, die die Hügel bedeckten. Was wir sahen, war eine einsamer alter Weinstock, der sich am Haus der Frau hinauf rankte und das Wellpappendach abstützte. Einige Weinreben hingen davon herab. 2 oder 3 Hühner stolzierten den Lehmweg hinab auf der Suche nach ein paar Körnern. Hinter dem Haus mit dem Weinstock sah ich eine Terrasse mit Bienenhäusern und Bienen die umherschwärmten. Ich erinnerte mich daran, dass ein Kousin meiner Mutter, der Sohn der Frau, die sie gefunden und nach Amerika mitgenommen hatte, später in Watertown, Massachussetts, immer Bienen gehalten hatte. Er versorgte uns regelmäßig mit Honigwaben. Offensichtlich war dies eine Familientradition, die sich seit der Zeit in der alten Heimat erhalten hatte.
Auf dem Weg zurück zur Hauptstraße, die auch nicht gepflastert war, sahen wir auf der anderen Seite eine weite Ebene, übersät mit Ruinen alter Gebäude. Steine, in 2 bis 3 Reihen ordentlich übereinander gestapelt, Reste von einst bewohnten Häusern, alle noch in Blöcken angeordnet, so dass die Umrisse der Wohnhäuser, Geschäfte und Büros noch halbwegs erahnt werden konnten.
Die nächste Etappe unserer Entdeckungsreise war Agin (Agn), die Stadt in der die Adoptiveltern meiner Mutter gelebt hatten. Es gibt 2 Städte mit ähnlichen Namen, eine südlich von Arapgir, die andere weiter nördlich. Armen folgerte, dass es die letztere sein müsse, nach der wir suchten. Denn nach Aussagen meiner Mutter sollte die Stadt zu Fuß, möglicherweise in mehreren Tagesmärschen, von Tsack erreichbar gewesen sein. Heute heißt die Stadt nach Kemal Atatürk Kemaliye. Atatürk soll bei einem Besuch von der Schönheit der Stadt derart eingenommen worden sein, dass er ihre Renovierung und Instandsetzung in Auftrag gab. Tatsächlich setzte sich dieser Ort deutlich von allem ab, was wir bisher gesehen hatten. In der Hauptstraße reihten sich wunderschön renovierte Häuser mit Holzfassaden aneinander, was eher den Eindruck eines Schweizer Nobelskiortes ergab. Ein Gebäude beherbergte ein Museum, das die untrüglichen architektonischen Merkmale einer hübschen ehemaligen armenischen Kirche trug. Die graziös geschwungenen Rundbögen waren deutlich zu erkennen.
In Agin suchten wir die Moschee, auf deren Stufen ein türkischer Schafhirte meine Mutter als Kleinkind abgelegt hatte. Er hatte sie in einem Haufen von Leichen von Frauen und Kindern gefunden. Sie alle waren aus Tsack mitgenommen und erschossen worden. Wie es mit Findelkindern üblich war, nahm er das Baby mit in die Stadt, wo er vielleicht wohnte, und ließ es auf den Stufen der Moschee zurück. Dort fand es der Gendarm Omar und nahm es mit nach Hause. Omars Ehefrau, die selbst keine Kinder hatte, wollte das Kind eigentlich nicht, weil es ja ein Giavour (eine Christin) war. Und sie fühlte sich zu alt, ein Kind aufzuziehen. So nahm sie das Kind und brachte es zurück zur Moschee. Während Gulnaz mit ihren Freundinnen plauderte, kroch das kleine Kind zu ihr zurück und zog an ihrem Rock. Gulnaz meinte, Allah habe ihr ein Zeichen gesendet, dass sie sich um das Kind kümmern sollte.
Die Moschee war sehr alt und schön, erbaut im Jahre 1070, renoviert in den Jahren 1960 und 2005 und lag direkt im Stadtzentrum an einer Straße, die von der Hauptstraße abzweigte. Vor der Moschee war ein kleiner Vorplatz wie eine Piazza. Dort mögen vielleicht Gulnaz und ihre Freundinnen gesessen und geplaudert haben...

Zeugen aus Stein der wahren Geschichte
Auf dem Weg nach Erzincan, wo wir die Nacht verbringen wollten, hielten wir auch an der berüchtigten Kemagh-Schlucht an. Wir standen auf der Brücke des Flusses und schauten die felsigen Steilwände der Schlucht hinauf. Von den Klippen dort oben waren armenische Männer, zu zweit aufgereiht und an den Handgelenken aneinander gefesselt in die Schlucht hinabgestoßen worden, nachdem ihnen mit Bayonetten die Seiten aufgeschlitzt worden waren. (8)Bei jedem der die Geschichte kennt, wird bei dem Namen Kemagh ein Schauder den Rücken hinunterlaufen. Ein Unwissender aber hätte keine Chance zu wissen, was er da sieht. Es gab eine in den Fels nahe der Brücke eingelassene Tafel. Auf ihr stand nichts von den über 10 000 Armeniern, die hier in den Tod gestoeßen worden waren, sondern sie erinnerte an 6 türkische Soldaten, die hier in einem tragischen Autounfall vor Jahren ums Leben gekommen waren.
In Zatkig, einem Dorf an der Straße nach Kars, fanden wir eine weitere kleine Kirche, die von der armenischen Vergangenheit Zeugnis gab. 1915 hatte die Provinz eine Bevölkerung von 150 000 Menschen, davon 10 % Armenier. Obwohl jetzt fast verfallen, konnten wir an den Wänden dieser Kirche aus dem 10. Jahrhundert Umrisse von Fresken in Weiß und Blau erkennen. Die Bögen waren mit Steinen zugemauert und die Langkirche wurde jetzt als Lagerraum für Brennholz verwendet. Nach dem Heu im Hinterraum zu urteilen, war sie wohl auch als Stall benutzt worden.
Ein ähnliches Bild erwartete uns kurz vor Erzurum, eine Stadt, die Ende des 4. Jahrhunderts Teil des antiken armenischen Königreichs gewesen war. Die Ruinen einer Kirche waren mit Gras überwachsen. Sie glich dem Kopf eines Benediktinermönchs, der sich lange Zeit nicht mehr geschoren hatte...

Kars
In Kars, unserem nächsten Halt besuchten wir die Kirche, die in wunderbarem Kontrast herausstach - die Apostelkirche, 937 erbaut von König Abbas. Sie war 1064 unter den Seldschuken in eine Moschee verwandelt worden, und so blieb ihr das Schicksal vieler anderer Kirchen erspart. Für eine kurze Zeit von 40 Jahren wurde sie ab 1878 unter russischer Besatzung wieder ein Ort christlichen Gottesdienstes. Die Russen erweiterten das Gebäude um 4 Porticos an den 4 Eingängen, was der Kirche ein neues russisches Element verlieh. Dann wurde sie Museum zwischen 1969 und 1980, bevor sie 1994 wieder in eine Moschee verwandelt wurde.
Aber, es war nicht zu leugnen, dies war eine typisch armenische Kirche. Die Rundkuppel über einem 12-eckigen Turm mit 12 Rundbögen - typische Merkmale armenischer Architektur. Und dann die übergroßen Reliefs der Gestalten der 12 Apostel. Die Tafel am Eingang, für ausländische Touristen in englischer Sprache abgefaßt, gab allerdings keinen Hinweise darauf, wer dort Gottesdienst abgehalten hatte, bevor die Kirche Moschee wurde. Die Tafel sagte lediglich: Die Kirche wurde von einem Bagratidenkönig Abbas (932-937) erbaut. Dann wurden die Stationen der Geschichte aufgelistet. Das Wort “armenisch” tauchte nirgendwo auf. Wer die Bagratiden waren, blieb der Einbildungskraft der Besucher überlassen.

“Stadt der 1001 Kirchen” - Ani
Die gleiche Verhüllungspolitik war auch in Ani am Werk. Ani - einstmals altehrwürdige, prachtvolle Hauptstadt eines armenischen Königreichs. 2 große Tafeln am Haupteingang durch die alte Stadtmauer informieren den Besucher über die lange blendende Geschichte der Stadt Ani - aber auch hier: das Wort “armenisch” findet sich in den Erläuterungen nicht.
Ani wurde von Ashot III., dem König des armenischen Bagratidengeschlechts, der von 952 bis 977 regierte, gegründet und erbaut. Sie sollte die neue Hauptstadt des Königreichs und Symbol ihrer Kultur, ihrer wirtschaftlichen Leistungskraft und religiösen Glaubensstärke werden. Später wurde Ani als “Stadt der 1001 Kirchen” bekannt, natürlich eine Metapher, aber auch Hinweis darauf, dass es eine Vielzahl von Gotteshäusern gegeben hatte, die die sanft welligen Hügel und steilen Abhänge hinab zum Fluß Ahurjan schmückten. Eine ganze Reihe der Kirchen aus dem 10. und 11. Jahrhundert stehen noch heute, zumindest als Ruinen. Eine davon ist die Kirche des St. Grigor von Abughamrents, erbaut Mitte des 10. Jhdts., wahrscheinlich von Abughamrents Pahlavani. Sie hat die 12-eckige Grundstruktur, mit der noch intakten Kuppel darüber, aber mit großen Schäden an der äußeren Fassade. Auch von der Innenbemalung ist nichts mehr zu sehen.
Die 1035/36 vollendete Erlöserkirche wurde auch von einem Mitglied der Pahlavani-Familie in Sichtweite der anderen Kirche gestiftet. Der Innenraum hat einen Durchmesser von 15 m, der durch 8 große Nischen strukturiert wird, die vormals von Wandmalereien ausgeschmückt waren. Das, was heute noch steht, ist nur ein Schatten früherer Größe; es steht tatsächlich nur noch ein Halbkreis der ursprünglichen Struktur. Aber da historische Fotos und genaue Beschreibungen aus dem 19. Jahrhundert vorliegen, ist die Rekonstruktion durchaus möglich und soll unter der Ägide der UNESCO in Angriff genommen werden.
Die Kirche des St. Gregor, 1215 von Tigran Honents gestiftet, ist eine überkuppelte Hallenkirche an einem Abhang zum Fluß hinab. Die Dreieckschlitze und Blendbogen an der Fassade tauchen hier das erste Mal als äußere Verzierungselemente in der armenischen Architektur auf. Die Kirche beherbergt die schönsten und best erhaltenen Fresken sowohl an den Außenwänden am Eingang als auch im Innenraum. Was noch zu sehen ist, fordert geradezu eine große Anstrengung zur Restauration heraus.
Das Meisterwerk der Kirchenarchitektur in Ani ist die Kathedrale, die trotz ihres fortgeschrittenen Verfalls stark beeindruckt. Sie strahlt immer noch stolze Pracht und Erhabenheit aus. Nach der Beschreibung des zeitgenössischen Historikers Stephan von Taron aus den 10. Jhdt. starb König Ashot 977 und wurde dann von seinem Sohn Smbat bis 989 abgelöst. Smbat gab dem Meisterarchitekten Trdat den Auftrag, eine neue prachtvolle Kirche zu bauen. Dieser begann unvermittelt. Im Todesjahr von Smbat 989 wurde Konstantinopel von einem Erdbeben heimgesucht, die Hagia Sophia stark in Mitleidenschaft gezogen. Ein Spalt in einer Wand war unter dem Druck des Erdbebens aufgesprungen. Trdat, ein damals weit bekannter Steinmetz, hatte schon einen Plan und ein Modell der Hagia Sophia angefertigt. Er wurde also nach Konstantinopel berufen, um ihre Rekonstruktion und Rettung zu beaufsichtigen. Nach getaner Arbeit kehrte er nach Ani zurück und setzte seine Arbeit an der Kathedrale fort. (9)
Van und Akhtamar
Unsere nächste Etappe sollte uns nach Van führen. Auf dem Weg dorthin nahe der immer noch geschlossenen Grenze zur Republik Armenien machten wir Halt an einem riesigen Denkmal in Igdir, das ganz prominent das Wort “armenisch” herausstellte. Es war zwischen 1995 und 1997 entstanden und sollte dem bekannten Denkmal für die Opfer des Völkermords an den Armeniern in Montebello, Kalifornien ähneln. Das Monument in Igdir ehrt die türkischen Märtyrer, die von der Hand armenischer Attentäter umgebracht worden waren; die Ausstellung im Gebäude zeigt u.a. zahlreiche Fotos von türkischen Diplomaten und anderen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die von Terroristen der ASALA Bewegung ermordet worden sind. Aber die Informationen auf den Tafeln der Ausstellung im Gebäude des Denkmals sprechen von bis zu 1 Million (!) türkischer Opfer solcher Verbrechen.
Der weitere Weg nach Van führte uns über einen 2600 m hohen Paß durch atemberaubend schöne Landschaften am Ararat und seiner Hochebene vorbei zum größten Binnensee der Türkei, dem Van-See. In Van hatten wir leider viel zu wenig Zeit, die Zeugen der jahrtausende alten Befestigungsanlagen der Urartäer, der Assyrer und die Ruinenstadt des Alten Van zu besichtigen, dessen größter Teil unter einem Hügel von staubiger Erde begraben liegt. Van war übrigens auch Schauplatz eines mutigen Widerstands von Armeniern gegen die Jungtürken im Jahre 1915, einer der wenigen, der erfolgreich war. Ganz in der Nähe der Stadt in den Bergen oberhalb des Van-Sees besuchten wir die Überreste des Varakavank Klosters mit seinen 7 Kirchen, von denen allerdings nicht mehr sehr viel übrig geblieben ist. Vor Jahren, als Erzbischof Ashjian das Kloster besuchte und über den verschmutzten Zustand entsetzt war, hatte er darum gebeten, dass das Kloster doch in Zukunft sauber gehalten werde. Erfreulicherweise konnte mithilfe von Spendengeldern dafür gesorgt werden, dass örtliche Bewohner des kleinen Dorfes jetzt diese Aufgabe übernommen haben, und so fanden wir Varakavank in ordentlichem Zustand vor.

Akhtamar - der Höhepunkt
Der Höhepunkt unserer Pilgerreise war Akhtamar, möglicherweise die schönste armenische Kirche, die je gebaut wurde, einmal wegen der einzigartigen Reliefs an der Außenfassade, die Szenen aus dem alten und neuen Testament zeigen, zum Anderen wegen seiner harmonischen architektonischen Formen. Der Gesamteindruck der Kirche wird dann noch durch die Schönheit der landschaftlichen Umgebung verstärkt. Sie liegt auf einer kleinen hügeligen Insel in dem eigenartig grünlich- bläulich-türkis-gefärbten Van-See umgeben von schneebedeckten Bergen. Die Kirche erlangte im vergangenen Jahr besondere Bedeutung, sowohl in kultureller als auch in politischer Hinsicht. Die Restauration der Fassade der Kirche mit all ihren Reliefs wurde völlig abgeschlossen, eine der bemerkenswertesten Leistungen dieser Art in der Türkei. (10)Und im September 2010 erlaubten türkische Verwaltungsstellen, dass ein christlicher Gottesdienst hier abgehalten werden durfte - zum ersten Mal seit 95 Jahren. Ein Altarbild mit der Gottesmutter und Kind, das extra für den Gottesdienst aus Istanbul herbeigeholt worden war, wird in der Kirche verbleiben. Jetzt soll erlaubt werden, dass ein solcher Gottesdienst einmal im Jahr hier stattfinden kann. Ein türkischer Polizist erlaubte unserer Gruppe, das Vaterunser (Hayr Mer) im Kirchenraum zu singen, aber als unser Reiseführer Armen dies filmen wollte, schritt die Polizei ein.
Es ist schwer zu verstehen, dass auf dem gesamten Gelände von Akhtamar nicht ein einziges Mal erwähnt wird, dass es sich um eine armenische Kirche handelt. Die offizielle Informationstafel sagt lediglich: Der Architekt war ein Mönch namens Manuel, der für den König von Vaspurakan Gagik I. einen Palast gebaut hatte. Dieser Mönch errichtete die Kirche in Akhtamar zwischen 915 bis 921. Dies veranschaulicht mehr als alles andere das psychologische Dilemma der offiziellen türkischen Haltung in der armenischen Frage - vielleicht sogar mehr als die vielen Streitereien, die es im Vorfeld des Gottesdienstes im letzten Jahr gegeben hatte. Damals war es zu Auseinandersetzungen gekommen, ob ein Kreuz auf der Kirche errichtet werden kann oder nicht und wer an dem Gottesdienst teilnehmen dürfe und wer nicht.

Die Pathologie des Leugnens
Die offizielle Weigerung des türkischen Establishments, den Völkermord von 1915 anzuerkennen, hat die Gesellschaft dazu gebracht zu versuchen, die historische Existenz von fast 2000 Jahren armenischer Kultur und Zivilisation auf dem Boden der heutigen Türkei zu negieren. Denn die Anerkennung der Existenz dieser Kultur würde ja zu der Frage führen: Was geschah mit dieser Zivilisation? Wie wurde sie zerstört und warum? Also zu sagen oder zu schreiben: dies war eine armenische Kirche weckte so viele Assoziationen und würfe so viele Fragen auf, dass man solche Worte lieber nicht benutzt.
Natürlich handelt es sich um ein Unterfangen, dass zum Scheitern verurteilt ist. Kein noch so intensiv betriebenes Verschweigen oder Leugnen kann die Tatsache ausmerzen, dass eine armenische Zivilisation in Anatolien seit Menschengedenken bestanden hat. Die Steinernen Zeugen also schreien auf! Und eine wachsende Anzahl von Besuchern aus der armenischen Diaspora bereisen die Region auf den Spuren ihrer Vorfahren und hören die vielfältigen Geschichten, die die steinernen Denkmäler zu erzählen haben. Die einfachen türkischen Bürger, die wir bei den Besuchen der Dörfer und Städte trafen, hatten kein Problem damit, von der Vergangenheit zu hören und sie so anzuerkennen, wie sie erzählt wurden. In Peshmaschen auf dem Weg von Elazig nach Arapgir, erzählten uns Dorfbewohner, dass ihre eigenen Vorfahren aus Griechenland und dem Balkan durch den sogenannten Bevölkerungsaustausch nach dem 1. Weltkrieg dorthin umgesiedelt worden seien. Sie waren dazu ausersehen, die Häuser und Höfe zu übernehmen und zu bewirtschaften, die nach den Deportationen und Massakern an den Armeniern leer standen. Sie schworen, dass ihre Vorfahren nichts mit dem Völkermord zu tun hatten, und natürlich hatten sie Recht. In Kharpert zeigten uns Ortsansässige stolz alte Fotos vom Euphrates College, das längst anderen Gebäuden weichen mußte. Viele Mensche erzählten spontan ihre Geschichten über ihre armenischen Großmütter und Mütter, wie in Tsack. In Arapgir, erinnerten sich Nachbarn wehmütig und traurig an Sarkis, den letzten Armenier in der Stadt, der im vergangenen Jahr im Alter von 95 Jahren verstorben war.
Das Problem liegt also nicht bei der türkischen Bevölkerung. Tatsächlich gibt es jetzt so etwas wie eine Sehnsucht nach Entdeckung der eigenen Identität in der Türkei. Tausende wenn nicht gar Hunderttausende von Türken entdecken ihre armenischen Wurzeln und arbeiten ihre Familiengeschichten durch. Das Problem liegt nicht bei ihnen, sondern bei der politischen Klasse in der Türkei. Wie Hrant Dink es formulierte, leidet sie aufgrund der historischen Last des Völkermords an einer ausgereiften “Paranoia”. Um diese Paranoia zu schützen, hat das Establishment ein Phantom geschaffen und eine Methode des Leugnens aus Staatsräson perfektioniert. Dies geht so weit, dass man selbst die Geschichte der Region umzuschreiben versucht, indem man die armenische Präsenz negiert.
Jeder professionelle Psychiater wird zustimmen, dass es für die Überwindung der Paranoia zu einer Konfrontation mit der Realität kommen muß. Dazu gehört, die historischen Zeugnisse anzuerkennen und den Völkermord wahr zu nehmen, wie er von einem Jungtürken-Regime in einem bestimmten Zeitrahmen unter bestimmten Bedingungen begangen wurde. Aber das ist noch nicht alles. Es muß dann darum gehen, die Existenz eines reichen kulturellen, politischen und religiösen Beitrags der Armenier zur Geschichte der heutigen Türkei anzunehmen und in gewisser Weise neu zu entdecken. Der beste Weg zu diesem Ziel wäre, wenn Türken und Armenier aus aller Welt, auf der Ebene staatlicher Institutionen und durch zivilgesellschaftliche Organisationen, gemeinsam am Wiederaufbau und der Wiederherstellung der Kunstschätze der christlichen Tradition in dieser Region arbeiteten. Es wäre die Anerkennung des Beitrages, den diese Tradition zur Weltzivilisation geleistet hat. Die Rolle der UNESCO sollte es nicht sein, der Geschichtsfälschung Vorschub zu leisten, sondern diesen aufgezeigten Weg zu ebnen. Dann müßten die Steine nicht mehr aufschreien. Sie könnten beginnen zu erzählen und heilende Kräfte zu verströmen.

1.   ^  http://www.unesco.org/culture/ich/fr/RL/00434
2.   ^ http://www.collectfvan.org/article.php?r=0&id=55039
3.   ^Aserische Bagger haben auf einem armenischen Friedhof in Jolfa, Nachitschewan, tausende von Steinkreuzen untergewalzt, und das Foto des Friedhofs vor der Zerstörung wurde in der Ausstellung gezeigt.
4.   ^ Adriano Alpago Novello, Armenische Architektur von Ost nach West, in: The Armenians, Rizzoli, New York, 1986.

5.   ^Anna Mirakian, Wunden und Schmerzen: Eine kindlose Mutter, Aprilian Genocide Series, Nr. 10, Seite 25.
6. Ibid., Seite 16
6.   ^Josef Strzygowski, Die Baukunst der Armenier und Europa, Kunstverlag Anton Schroll & Co., G.m.b.H. in Wien, 1918. Das gesamte historische Material zur Kirchengeschichte, das in diesem Artikel Verwendung findet, ist diesem bahnbrechenden Werk entnommen. Besonders wertvoll sind die Fotos dieses Werks, alle am Ende des 19. und frühen 20. Jahrhundert aufgenommen. Sie zeigen viele Kirchen in relativ gut erhaltenem Zustand. Die Kathedrale in Kars wird z.B. gezeigt, bevor die russischen Porticos hinzugefügt wurden.
7.   ^ Christopher J. Walker, “World War I and the Armenian Genocide”, in: The Armenian People from Ancient to Modern Times, Volume II, Foreign Domination to Statehood: the Fifteenth Century to the Twentieth Century, edited by Richard G. Hovannisian, Macmailla, New York, 2004, p.247.

8.   ^ Strzygowski, op. cit.
10.   ^ Radierungen von vielen Akhtamar-Reliefs, vor der Restauration von dem Graphiker Sartorius angefertigt, können käuflich erworben werden. Aus dem Erlös wird die weitere Forschung über den Völkermord anhand der Dokumente des Deutschen Außenministeriums aus der Zeit des 1. Weltkriegs finanziert. Weitere Informationen dazu: www.armenocide.net