Vorstellung der Mirak-Weißbach-Stiftung
Muriel Mirak-Weissbach
Lepsiushaus, Potsdam
7. September 2013
Für die Einladung, heute Abend hier im Lepsiushaus zu Ihnen sprechen zu dürfen, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein Dank gilt vor allem Dr. Rolf Hosfeld und Roy Knocke. Ich bedanke mich auch genauso herzlich bei Frau Anna Maria Pammer und Prof. Hayruni für die Teilnahme an dieser Veranstaltung.
Vielleicht haben Sie sich gewundert, als Sie den Einladungstext gelesen haben, dass es eine neue Stiftung für Armenien gibt, die als erstes Projekt einen Flügel nach Armenien schicken will. Warum einen Flügel? Warum nach Gjumri? Und auch warum ein Blüthner-Flügel?
Ich werde versuchen, die Stiftung kurz vorzustellen, wie die Idee geboren wurde und warum wir dieses Projekt gewählt haben.
Die Idee, eine Stiftung zu gründen, hängt eng mit meiner Familiengeschichte zusammen. Beide meiner Eltern waren Armenier, sie stammten aus Ost-Anatolien in der Gegend um Arabkir in der heutigen Türkei. Beide waren im Völkermord an den Armeniern der Jahre 1915/1916 zu Waisen geworden. Sie haben beide Glück im Unglück gehabt, weil sie überlebt haben. Nach dem Krieg waren sie von Verwandten wiedergefunden worden und, nach Jahren, über Aleppo und Frankreich, nach Amerika ausgewandert. Dort haben sie geheiratet und eine Familie gegründet. Aus praktischen Gründen – wir reden über die Zeit der großen Depression in den 1930er-Jahren -, konnten sie nicht studieren, sondern mussten arbeiten gehen. Aber vor allem mein Vater hat uns Kindern immer gesagt, wir müssten lernen, lernen, lernen, um etwas in unserem Leben zu erreichen. Als er ein erfolgreicher Unternehmer geworden war, fing er an, mehrere Projekte zur Ausbildung von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen, in seiner neuen Heimat um Boston sowie im Ausland. So hat er zum Beispiel Einrichtungen für Waisenkinder im Libanon finanziert.
In den 1960er Jahren half er Vahan Topalian, einem armenischen Buchsammler, eine Stiftung zu gründen, wo dieser seine wertvolle Büchersammlung unterbringen konnte. Die Armenian Cultural Foundation in Massachusetts ist bis heute noch sehr aktiv, inzwischen unter Leitung meines älteren Bruders. Sie dient als Bibliothek und Begegnungsstätte für Vorträge, Konzerte und Seminare. Mein Vater hat auch vor seinem Tode eine eigene Stiftung – die John Mirak Foundation – gegründet, die Initiativen in der armenischen Republik unterstützt hat, z.B. Aufforstungsprogramme (zusammen mit dem Armenia Tree Project) und zur Ausrüstung von Spielplätzen in Kindergärten oder zum Aufbau von Waisenhäusern und Schulen. Er hat nie vergessen, wo er herkam und hat versucht, seine Dankbarkeit in dieser Form auszudrücken.
Als mein Mann und ich zusammen mit meinem Bruder 2008 zum ersten Mal Armenien besuchten, haben wir einige dieser Einrichtungen, vor allem Kindergärten und ein Waisenhaus, aber auch das Baumschulprojekt, besichtigt. Wir besuchten auch die zweitgrößte Stadt Armeniens Gjumri, die 1988 wie die gesamte Region um Spitak und Gjumri durch das furchtbare Erdbeben dem Erdboden gleichgemacht worden war. Dort hatten wir Gelegenheit, die Musikschule zu besuchen und mit dem Direktor Harytyun Asatryan und seinen Mitarbeitern zu reden. Wir sahen ein provisorisches Gebäude aus Wellblech und Holz notdürftig zusammengezimmert, was mich sehr stark an die Wohnungen im Gaza-Streifen erinnerte. Stolz erzählten uns die Lehrer damals, dass nach dem Erdbeben der Musikunterricht nur 2 Wochen lang ausgefallen war. Er war zunächst in den Privatwohnungen abgehalten und später in diesem „provisorischen Schulgebäude“ weitergeführt worden. Die Schule hat also ihren Unterricht praktisch nie ausgesetzt. Seit 1988 wurde ununterbrochen unterrichtet, und jedes Jahr wurden junge Musiker ausgebildet, die sich dann nach Möglichkeiten um eine höhere Ausbildung bemühten. Von diesem Besuch blieb uns ein Konzert in Erinnerung, das Schüler spontan für uns improvisierten. Wir waren von deren Ernsthaftigkeit und Leidenschaft tief beeindruckt. Beeindruckend war auch die Gastfreundschaft des Direktors und seiner Mitarbeiter. Und was hängen blieb, war der Optimismus, den sie zeigten. Sie waren zuversichtlich, dass irgendwann irgendwie die Schule wiederaufgebaut werden würde.
Letztes Jahr haben mein Mann und ich entschieden, eine kleine Stiftung ins Leben zu rufen, zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Armenien, aber ohne eine klare Idee, was für Projekte wir unternehmen würden. Die Satzung der Stiftung ist aus diesen Gründen relativ allgemein und flexibel. Dort heißt es:
„Zweck der Stiftung ist die Unterstützung und Förderung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sowie die Förderung der Aus- und Fortbildung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch ideelle und finanzielle Unterstützung; dabei sollen insbesondere Personen in und aus Armenien sowie Personen mit armenischen Wurzeln gefördert werden, die ihre Eltern verloren haben oder von ihren Eltern verlassen wurden (Waisenkinder, Straßenkinder).“
Einige wichtige Ereignisse haben uns nach der Gründung der Stiftung wieder nach Gjumri und zu unserer Entscheidung geführt, einen Blüthner-Flügel für die Musikschule dort zu organisieren. Bereits Ende des letzten Jahres hatten wir erfahren, dass Gruppen von Rock-Musikern sich zu einer Kampagne Rock Aid Armenia zusammengeschlossen hatten. Sie organisierten Benefizkonzerte und gaben CD’s heraus, um den Bau einer neuen Schule zu finanzieren. Danach war auch die Familie Mardigian aus den USA eingestiegen, die bereits seit Jahren die musikalische Ausbildung von Kindern und Jugendlichen an der Musikschule in Gjumri unterstützt hatte. Der Fund for Armenian Relief (FAR), eine große Stiftung mit Sitz in den USA, die direkt nach dem Erdbeben gegründet worden war, hat ebenfalls sehr viel zum Erfolg des Projekts beigetragen. Was fehlte, so hatte man uns mitgeteilt, waren Musikinstrumente. Direktor Asatryan, mit dem wir in Kontakt waren, hatte uns eine Liste von Instrumenten geschickt, die er haben wollte, egal ob neue oder gebrauchte. Kurzum: wir haben einen Aufruf an Freunde und Familienangehörige geschrieben, vor allem an Leute, die selbst musizieren, und so kamen die ersten Sach- und Geldspenden zusammen.
In Mai diesen Jahres hatten wir vor, wieder nach Armenien zu fahren, diesmal um konkrete Pläne mit Personen dort zu diskutieren. Wir wollten natürlich die ersten Instrumente persönlich nach Gjumri bringen und sehen, wie die Bauarbeiten vorangingen. Kurz vor unserer Abreise hatte ich Kontakt mit dem Fund for Armenian Relief (FAR) in New York hergestellt, um zu eruieren, inwieweit wir eventuell mit ihnen zusammenarbeiten könnten. Zu meiner Überraschung hat der zuständige Mann in New York mir am Telefon mitgeteilt, dass er gerade dabei war, eine Riesenspende von Musikinstrumenten für Gjumri abzufertigen. Ein Musikladenbesitzer aus Kanada hatte eine große Aktion gestartet und FAR sollte alles für den Transport nach Gjumri organisieren. Groß war die Freude, dass so viele neue Instrumente auf dem Weg nach Armenien waren, aber wir wussten nicht genau, wie wir mit unserer Kampagne weitermachen sollten. Laut FAR wollte das Musikgeschäft aus Kanada die Schule komplett ausrüsten.
Wir haben entschieden, dahin zu fahren, Kontakt mit FAR in Jerewan aufzunehmen, und dann weiterzusehen. Kurz zusammengefasst: Wir haben die stellvertretende Landesdirektorin des FAR in Jerewan getroffen und von ihr erfahren, dass eine andere Musikschule – in Oschakan, auch nagelneu gebaut, – unsere Instrumente gut gebrauchen könnte. Wir sind dann von Jerewan mit Frau Piloposyan hingefahren, konnten das neue Gebäude bewundern und haben unsere Instrumente und einige Musikalien dem Direktor übergeben können. Natürlich kamen wir auch hier in den Genuss eines kleinen Konzerts der Schüler.
Nach Gjumri kamen wir also danach mit leeren Händen, aber alle wussten von der Spende aus Kanada und waren froh, dass Oschakan unser kleines Geschenk gerne entgegengenommen hat. Als aller erstes wollten wir den Neubau besichtigen. Wir sahen ein sehr schönes, sehr stabiles Gebäude im Bau; die dicken Wände sind erdbebensicher. Es gibt mehrere Klassenzimmer für Solisten und Ensembles, und einen größeren Saal für Konzerte. Als wir es uns nach der Besichtigung um einen Tisch bequem gemacht und mit armenischem Cognac auf die neue Schule angestoßen hatten, kamen wir ins Gespräch über die nächsten Schritte. Herr Asatryan hat sich natürlich sehr gefreut über die neuen Geigen, elektronische Tasteninstrumenten, Ukulele, Gitarre usw., die auf dem Weg aus Kanada unterwegs sein sollten. Aber im Verlaufe des Gespräches stellte sich heraus, dass es vor allem einen Herzenswunsch für die neue Schule gab, nämlich einen Salonflügel für Konzerte im Vortragssaal der Schule zu bekommen. Herr Astaryan drückte es so aus: „Wir in Gjumri haben eine lange Tradition, wir sind nicht die politische, sondern die kulturelle Hauptstadt Armeniens.“ Dann hat er und seine Kollegen angefangen aufzulisten, welche Komponisten, Dichter, Schriftsteller, Maler, Sänger und Musiker die Stadt Gjumri ausgebildet hat, wie viele ins Ausland gegangen sind und Karriere gemacht haben. „Wir wollen Weltklassemusiker hier in der Schule ausbilden,“ sagte er, „und dafür brauchen wir Qualitätsinstrumente. Am liebsten aus Deutschland, weil die deutschen Instrumente die besten sind.“ Und er nannte sofort seine Wunschmarke: es sollte ein Blüthner-Flügel sein. (Erst in Jerewan, bei einem Besuch des Museums für Aram Khatschaturian stieß mein Mann auf die Marke Blüthner-Leipzig. Das Logo stand auf dem Klavier, auf dem der bekannteste zeitgenössische armenische Komponist komponiert hatte.)
Nach unserer Rückkehr nach Deutschland hat mein Mann sofort Kontakt zur Firma Blüthner gesucht. Dr. Christian Blüthner, der heutige Firmenchef und Nachfahre des Gründers Julius Blüthner machte das Projekt persönlich zu seiner Chefsache. Wir haben inzwischen gelernt, dass das Familienunternehmen Blüthner einer der ältesten Klavierproduzenten der Welt ist. Es wurde 1853 in Leipzig gegründet und blickt auf eine erfolgreiche, bewegte Geschichte zurück. Bis 1903 gewann der Betrieb neben vielen anderen Auszeichnungen auf 12 Weltausstellungen Preise und erlangte so Weltruhm. Der Betrieb wurde 1943 bei einem Bombenangriff bis auf die Grundmauern zerstört, wurde in der Zeit der DDR in einen volkseigenen Betrieb umgewandelt und expandierte bald vor allem in die Länder des Ostblocks hinein. Die Kontakte bis nach China blieben auch erhalten, als das Unternehmen nach 1990 wieder in Familienbesitz überging.
Wir sind Herrn Christian Blüthner dankbar, dass er die Bedeutung des Projekts so hoch eingeschätzt hat, dass er es ohne Zögern unbürokratisch und weitgehend unterstützt hat. Vor allem hat der Betrieb seine jahrzehntelangen Erfahrungen auch bei der Abwicklung des Transports nutzen können.
Teile der Kosten sind durch Spenden, u.a. auch von der John Mirak-Stiftung in den USA, der ausstehende Teil mit einem Darlehen gesichert worden; die Kampagne für Spenden soll jetzt dazu beitragen, das Darlehen zurückzuzahlen. Dazu werden noch € 20.000,– benötigt.
Wenn alles gut geht, werden mein Mann und ich Ende des Monats nach Gjumri fliegen, um bei der offiziellen Eröffnungsfeier der neuen Schule anwesend zu sein. Einige der Rockmusiker wollen ebenfalls an den Feierlichkeiten teilnehmen. Wir hoffen, dass der neue Blüthner-Flügel dann bereits eingetroffen, an seinem Platz auf der Bühne des Vortragssaales aufgestellt und gestimmt ist. Dann werden sicherlich von Schülern Sonaten von Beethoven, Mozart, Schubert u.a. zum Vortrag kommen...
Lassen Sie mich abschließend noch ein, zwei Bemerkungen machen: Eine Person, die ich über das Projekt informiert habe, fragte mich, ob es nicht besser wäre, etwas anderes zu finanzieren. Ist ein Klavier nicht ein Luxusartikel? Andere würden vielleicht fragen: wenn schon ein Klavier, warum nicht ein billiges Produkt aus China?
Die Antwort auf diese Fragen berührt natürlicherweise die Rolle, die die Musik für die armenische Gesellschaft spielt und seit jeher gespielt hat. Man sagt, es gebe mehr Klaviere in Jerewan als Fernsehapparate, und wenn man durch die Straßen der Stadt spaziert, kann man ständig aus irgendeinem offenen Fenster Klaviermusik hören. Selbst eine kleine Pension, die mein Mann auf unserer Reise kennenlernte, hatte im Speisesaal einen Flügel stehen. Und wenn es Zeit gab, setzten sich Arbeitskräfte des Hauses daran, um zu spielen oder zu üben. Für die Armenier in der Diaspora, selbst für Leute wie meine Eltern, die überhaupt keine Ausbildung hatten, geschweige denn in der Musik, war es selbstverständlich, dass die Kinder ein Instrument lernen sollten. So haben zwei meiner Brüder Geige und Klarinette bekommen und ich ein Klavier. Und wir haben alle Unterricht gehabt. Ohne die Theorien von Schiller oder Humboldt gelesen zu haben, wussten sie, dass eine musikalische Ausbildung ein wichtiges Element der ästhetischen und moralischen Entwicklung des Charakters ist. Die Kulturgeschichte des armenischen Volkes ist von drei Bereichen wesentlich bestimmt worden, sie haben die nationale Identität entscheidend geprägt: die Sprache, die Musik und die Religion. Mit der Schaffung des Alphabets durch Mesrob Maschtots haben die Armenier die biblischen Schriften schon in 5. Jahrhundert übersetzen können. Die Liturgie in der alten Sprache Krapar wird gesungen. Und kein wichtiges Ereignis im Leben eines Armeniers wird ohne Musik gestaltet.
Die Tradition der Musik geht weit in die vorchristliche Zeit zurück. Am Hofe Tigrans II. im 1. vorchristlichen Jahrhundert gab es bereits ein königliches Orchester. Mit der Einführung des Christentums in Armenien entstanden neben den Meisterwerken der ländlichen und städtischen Musik – Minnegesang, Heldenlieder, Stücke für Männerchöre – vor allem geistliche Musik in Form von Liedern, Hymnen und liturgischen Gesängen, die zu dem Schönsten und Einzigartigen gehören, was die armenische Kultur hervorgebracht hat. Ein ganz besonderer Platz in der armenischen Kultur- und Musikgeschichte gebührt dem armenischen Priester-Dichter und -Komponisten Komitas (1869-1935). Nach seinem dreijährigen Studium in Berlin, u.a. auch an der Humboldt-Universität in Berlin, „kehrte er 1899 nach Armenien zurück. Er reiste jahrelang durch Dörfer und Städte in den Provinzen des Landes, hörte Hirten und Bauern zu, die bei der Arbeit sangen, Müttern bei ihren Kindern, lauschte Liebesliedern, Hochzeits- und Trauergesängen, Legenden, epischen Gesängen und Spottgedichten. Was über Jahrhunderte mündlich überliefert worden war, hielt er in seinem eigenen Notationssystem präzise fest. Seine Stellung in der armenischen Musikforschung ist der Bela Bartoks und Zoltan Kodalys in der ungarischen vergleichbar. Von den etwa 3-4000 gesammelten Volksliedern für alle Lebenslagen veröffentlichte er nur einen kleinen Teil als Kunstlied mit Klavierbegleitung, der überwiegende ist für mehrstimmigen Chorgesang bearbeitet... Kirchen- und Volksmusik sind wie Schwester und Bruder. Die Lieder konnte er retten, während die, die sie gesungen hatten, kurze Zeit später schon nicht mehr waren.“ (zit. nach Gisela Ramming-Leupold, Land am Ararat, mitteldeutscher verlag, S. 192)
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und weiß, dass Prof. Hayruni und Frau Pammer uns noch viel mehr über das Musikleben in Armenien sagen können.