Lepsiushaus
Vortrag im Lepsiushaus:
Am 10. Februar 2012 hat das Lepsiushaus in Potsdam (http://lespiushaus.wordpress.com) mich eingeladen, einen Vortrag über meine Familiengeschichte und die „Großmutter-Debatte“ in der heutigen Türkei zu halten.
Am 13 Februar hat das DeutschlandradioKultur ein Interview mit mir über das gleiche Thema gesendet:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1676486/




„Meine armenische Grossmutter:
die Türkei und ihre Identität“


Muriel Mirak-Weissbach
Lepsiushaus, Potsdam
10 Februar 2012


Für die Einladung, heute Abend hier im Lepsiushaus zu Ihnen zu sprechen, möchte ich mich ganz herzlich bedanken. Mein Dank gilt vor allem Dr. Rolf Hosfeld und Roy Knocke.

Die Welt schaut auf die arabische Welt und sieht einen revolutionären Prozeß, der sich sehr dramatisch zuspitzt. Weniger dramatisch aber genauso bedeutsam findet in der Türkei eine Art „Revolution“ statt. Es geht nicht um den Versuch, die Regierung oder das Regime zu stürzen, und eine politische Alternative einzuführen, es geht vielmehr um eine Revolution im Denken, um eine intellektuelle, psychologische und moralische Wende. Wenn dieser revolutionäre Prozeß sich weiter entfaltet und ihre Ziele erreicht, würden wir vielleicht bald von einer „neuen Türkei“ reden können, einer Türkei, die sich mit der Vergangenheit – dem Völkermord an den Armeniern 1915 -- auseinandersetzt, die historische Wahrheit annimmt und zu einer neuen Beziehung zum ehemaligen Feinde findet.

Obwohl es seit mehreren Jahren eine heftige Kontroverse um 1915 gegeben hat, und zahlreiche Intellektuelle und Journalisten, die das Thema angesprochen haben, dafür bestraft worden sind, war es das Buch von Fethiye Çetin, Meine Großmutter, das den Damm gebrochen hat. In diesem Buch (2004 erschienen) hat Frau Çetin die Geschichte ihrer armenischen Großmutter erzählt, die sie ihr am Ende ihres Lebens zum ersten Mal enthüllt hat. Die Großmutter war 1915 als armenisches Kind gerettet, als türkische Muslimin großgezogen und an einen Türken verheiratet worden. Weitere Bücher sowie Zeitungsartikel zu dem gleichen Thema sind in den Jahren danach erschienen, unter anderen „Meine armenische Frage“ in Hürriyet (September 2005), „Die deportierten Kinder: Meine Großmutter war Armenierin,“ 2005, „Die armenischen Adoptivkinder,“ 2006, „Der Bastard aus Istanbul“ (2006) und 2009 das Buch von Fethiye Çetin zusammen mit Ayse Gül Altinay, „Les petits enfants“ (Die kleinen Kinder). Solche Publikationen – einige davon Bestseller -- zeugen von einer sehr weit verbreiteten, tiefgehenden Debatte in der türkischen Bevölkerung über die Vergangenheit der Nation und die Herkunft ihrer Staatsbürger. Immer mehr Menschen fragen sich, ob die eigene Großmutter vielleicht auch Armenierin war!

Im Januar 2007 wurde Hrant Dink vor seinem Büro in Istanbul erschossen. Der Redakteur der armenisch-türkischen Zeitschrift AGOS, hatte sich für die Anerkennung des Völkermords und die Versöhnung zwischen Türken und Armeniern eingesetzt. Seine Ermordung erschütterte die türkische Zivilgesellschaft. Spontan marschierten nach der Tat Zehntausende Türken mit Plakaten durch Istanbul, auf denen zu lesen stand „Wir sind alle Hrant Dink“. Andere Plakate trugen den Spruch „Wir sind alle Armenier.“ Obwohl vielleicht keiner, der das Plakat zeigte daran dachte, war dieser Satz voller verborgener Bedeutungen: in der Tat, kann man heute fragen: wieviele der Demonstranten sind eigentlich Armenier?

Die Veröffentlichung solcher Bücher und der Mord an Hrant Dink haben eine „Revolution“ im Denken ausgelöst. Überlegen Sie, was die Implikationen sind: erstens geht es um die persönliche Identität - „Wer bin ich wirklich?“ Wenn ein Großelternteil armenischer Herkunft war, fragt man sich, wieso? Was ist wirklich 1915 mit den Armeniern im Osmanischen Reich geschehen? Was wussten meine Großeltern davon?

Meiner Meinung nach wird die sogannente „Großmutter-Debatte“ in der Türkei einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, daß die historische Wahrheit über die Ereignisse von 1915 allgemein anerkannt werden wird und daß der türkische Staat den Mut aufbringen wird, sich dazu zu bekennen. Dadurch wird der Weg zu einer Verständigung und Versöhnung zwischen Türken und Armeniern freigemacht. Ich glaube, daß solch eine psychologische, intellektuelle und moralische Entwicklung viel mehr bringt als Resolutionen im französichen Parlament oder im US-amerikanischen Kongress.

Ich rede nicht als außenstehende Beobachterin, sondern als persönlich an disem Prozeß Beteiligte. Ich hatte auch eine armenische Großmutter, sogar zwei, und auch zwei armenische Großväter. Leider habe ich keinen kennengelernt, weil sie alle 1915 umgebracht wurden. Aber meine Eltern, die beide im Jahr 1915 zu Waisen geworden sind, haben die Tragödie überlebt; sie waren zwei unter zehntausenden Waisenkindern, und hundert Tausender von Erwachsenen. Jeder einzelne hat eine eigene Geschichte, aber alle haben etwas Gemeinsames. Die Dokumentation der individuellen, ganz persönlichen Schicksale durch die Kinder anhand von Memoiren, Erzählungen und wissenschaftlichen Studien ist absolut unentbehrlich. Sie sind jedes für sich ein Beweisstück, daß es einen Genozid gegeben hat.
Gleichzeitig dokumentieren die Berichte, wie die meiner Eltern, daß viele Armenier von Türken gerettet wurden. Meine Familiengeschichte ist paradigmatisch für das Drama des Völkermords und auch, so wie ich die Ereignisse verstehe, ein Symbol der Hoffnung auf Verständigung und Versöhnung.

Lassen Sie mich diese Familiengeschichte erzählen, und danach auf die „Großmutter-Debatte“ zurückkommen. Ich zitiere aus den Memoiren meiner Mutter, die ich auch in meinem Buch eingarbeitet habe.

„Ich [Artemis Yeramian] wurde am 15. November 1914 in dem kleinen, nahe der Stadt Arabkir gelegenen Dorf Tsack geboren. Mein Vater, der seit fünfzehn Jahren in den Vereinigten Staaten lebte, war 1910 in sein Heimatland zurückgekehrt, um mit seiner Familie zusammen sein zu können und vielleicht seine Eltern davon zu überzeugen, die Türkei zu verlassen und nach Amerika auszuwandern. Er war mit Mariam Dedekian verheiratet, einem der hübschesten Mädchen im Dorf. Sie stammten beide aus mittelständischen Familien. Sie waren Landbesitzer und mein Großvater Krikor Yeramian war der Schatzmeister des Dorfes, der jungen Männern Geld lieh, damit sie nach Amerika gehen konnten, um dort zu arbeiten und mit dem Verdienst ihre Familien in der Heimat zu unterstützen. Er fühlte sich in seinem Heimatland wohl und sicher, warum sollte er in die Fremde ziehen? Er überredete meinen Vater, seinen einzigen Sohn Garabed, in der Türkei zu bleiben, eine Familie zu gründen und mit ihnen zusammenzuleben....

Meine Mutter hatte Kinder gehabt, aber keines von ihnen hatte überlebt. Als ich geboren wurde, unternahm meine Großmutter Maigir eine Novene, auf armenisch „Ooquth“ genannt: Sie ging hin und sammelte vom Silberschmied und von Nachbarn vierzig unterschiedliche Gegenstände aus Silber und ließ daraus für das Kind ein Armband anfertigen. Natürlich wurde es vom Priester des Ortes geweiht und meine Mutter ließ die Aufschrift „Artemis“ darauf anbringen. Bei meiner Taufe wurde dann das Wort „Abrisse“ – „Mögest du leben“ – hinzugefügt. Sie ließen auch einen Kinderkittel aus vierzig verschiedenen Stoffen nähen. Dieses Kleid trug ich als Baby immer und immer wieder. Meine Familie war sehr glücklich, endlich ein Kind zu haben, das überlebte, auch wenn es kein Junge war. Jungen waren immer willkommener, weil sie den Namen der Familie weiter trugen. Aber egal, ich war am Leben.

1913 schloss die türkische Regierung alle Grenzübergänge. Niemand konnte das [armenische] Gebiet verlassen, jede Kommunikation mit der Außenwelt wurde unterbunden. Kein Brief kam ins Land herein oder hinaus. Das war der Anfang des Plans, des „Völkermords“.

Ich war noch ein Kleinkind, als 1915-1916 das Morden begann. Die Menschen aus unserem Dorf wurden in der Kirche versammelt; alle Männer, Frauen und Kinder mussten tagelang dort bleiben. Dann führten die Gendarmen – türkische Soldaten – sie in Gruppen etwa fünf bis zehn Meilen weit weg und erschossen sie. Meine Mutter, meine Großmutter und andere Frauen und Kinder wurden zusammengepfercht und erschossen. Meine Mutter umklammerte ihr kleines Baby Artemis und hielt es eng an die Brust, damit das Kind mit ihr stürbe. Aber die Kugel hat mich verfehlt.

[Frau] Digin Bakerian hatte das Massaker überlebt. Sie sah mich und wusste, dass ich am Leben war, aber wohin sollte sie mit einem kleinen Baby gehen? Wenn es schrie, hätte man sie gefasst, darum ließ sie mich dort bei den Leichen liegen. Sie entkam in das nächstgelegene Dorf und wurde von türkischen Nachbarn gerettet.

Wenige Tage später hörte ein türkischer Schäfer, der in der Nähe seine Herde weidete, unter all den Leichen ein Baby weinen. Er hob das kleine Kind auf, nahm es mit und legte es auf den Stufen einer türkischen Moschee ab. Ich weiß nicht, wie lange dieses kleine Kind unter freiem Himmel liegengelassen wurde. Schließlich kam ein Gendarm dieser Stadt namens Omar. Er hatte Mitleid mit dem kleinen Kind, nahm es mit nach Hause und bat seine Frau Gulnaz, sich um das Baby zu kümmern. Sie hatten keine Kinder. Die Frau weigerte sich aber, das Baby aufzunehmen, denn sie wollte nicht für ein „Giavour“-Kind, eine Christin, sorgen und sagte, sie wäre ohnehin zu alt, um sich für ein kleines Kind zu kümmern. Aber schließlich willigte sie doch ein, das Baby über Nacht dazubehalten.

Am nächsten Morgen nahm sie das Kind und legte es auf die Treppe vor der Moschee. Während sie dasaß und mit den Nachbarinnen plauderte, krabbelte die Kleine plötzlich zu ihr hin und hielt sich an ihrem Rock fest. Gulnaz traten die Tränen in die Augen, sie schwor, Allah habe ihr dieses Kind geschickt und sie würde mich lieben und für mich sorgen solange sie lebte....

Sie hat mich sehr geliebt und ich wuchs auf und nannte sie „Ana“, was auf türkisch „Mutter“ bedeutet. Ich hatte von allem nur das Beste: wunderschöne Kleider – ich war das einzige kleine Kind, das rote Schnallenschuhe trug – und das beste Essen. Ich sprach nur türkisch. Ich erinnere mich, dass jeden Abend zur Abendbrotzeit der Muezzin sein Abendgebet vom Minarett herunter sang, danach begann unser Abendessen. Das war ein Ritual.

Ich wusste nicht, dass ich ein armenisches Kind war, sie haben es vor mir geheimgehalten. Um das Jahr 1917 herum kehrten dann die überlebenden Armenier in ihre Häuser zurück. Es gab nichts mehr außer den nackten Wänden. Um etwas zu verdienen, arbeiteten einige dieser Frauen in türkischen Haushalten und wurden dafür mit Lebensmitteln bezahlt. So geschah es, dass eine meiner Tanten, Margret Dedekian, zusammen mit einer anderen Frau in unser Haus kam. Sie erkannte mich sofort, aber Gulnaz Hanim stritt zunächst ab, dass ich ein armenisches Kind war. Nach einiger Zeit dann erzählte sie den Frauen, wie sie mich gefunden hatte. Sie zeigte ihnen den kleinen blutverschmierten Kinderkittel und mein silbernes Armband. Die Frauen freundeten sich miteinander an. Meine Verwandten erledigten ihre Hausarbeit und kehrten glücklich nach Hause zurück. Sie wussten nun, dass auch ich am Leben war und gut versorgt wurde. Sie kehrten in ihr Dorf zurück und erzählten meiner Cousine Joovar Millian, dass Artemis am Leben war und in einer türkischen Familie lebte.

Kurz nach 1917 durften sich die Armenier, die den Völkermord überlebt hatten, wieder frei bewegen. Meine Cousine Joovar kam, mich zu besuchen, aber ich wusste nicht, wer sie war. Ich erinnere mich, dass ich sehr scheu war und mich bei ihr nicht wohlfühlte. Man hatte mir ja gesagt, ich sei Türkin und sie wäre eine „Giavour“. Sie besuchte mich häufig, es war eine lange Reise. Sie musste den ganzen Tag laufen. Sie hatte weder Pferd noch Karren und lief einfach den ganzen Tag, nur um mich zu sehen. Joovars Vater und mein Vater waren Brüder. Ihr Vater war gestorben, sie lebte bei ihrer Mutter und Großmutter. Meine Cousine Joovar hatte keine eigenen Kinder. Sie hatte ihre verwaiste Halbschwester Siranoush und Boghos, einen Neffen ihres Ehemanns, zu sich genommen. Sie lebten in einem Haus im Dorf Tsack. Sie verfügte über viel Ackerland mit Weinbergen, die ihrer und meiner Familie gehörten. Ihr Ehemann war in Amerika, aber sie hat bis 1918 oder 1920 nichts von ihm gehört.

Eines Tages, als ich nach dem Spielen mit den Nachbarkindern nach Hause kam, saßen bei uns sehr viele Menschen und ich wollte wissen, warum. Mein Vater, der türkische Gendarm Omar, war krank geworden und plötzlich gestorben. Bis heute erinnere ich mich daran, wie alle Menschen aus dem Dorf kamen und weinten, die alten Menschen umarmten sich unter Tränen. Auch ich weinte. Ich hatte keinen Vater mehr, der mich auf dem Pferd reiten ließ oder mir schöne Kleider kaufte. Was sollte nun aus mir werden? Aber ich hatte meine Ana, die mich mehr denn je liebte. Sie war eine sehr warmherzige und liebevolle Person, die mich immer auf den Arm nahm und alles für mich tat. Ich liebte sie innig, meine Ana, meine Mutter.

Kurze Zeit danach, vielleicht ein Jahr später, heiratete meine Mutter einen jungen türkischen Soldaten, einen hübschen Mann, der viel jünger war als ihr erster Ehemann Omar. Gulnaz Hanim war eine reiche Witwe, der junge Mann heiratete sie ihres Geldes wegen. Er hatte noch eine weitere Frau und Kinder. In diesen Tagen durften die türkischen Männer mehr als eine Ehefrau haben.

Ein Jahr oder vielleicht zwei vergingen. Meine Cousine besuchte mich immer noch und alle verstanden sich gut. Als Omar noch am Leben war, hatte er meine Cousine gewarnt, sie sollte nicht einmal daran denken, mich ihm wegzunehmen, er werde sie sofort umbringen. Seine Warnung machte ihr keine Angst, sie kam weiterhin so oft wie möglich. Als er starb, standen die Dinge anders. Gulnaz’ neuem Ehemann war ich gleichgültig, er hatte ja eigene Kinder. Sie sprachen mit meiner Cousine darüber. Wenn sie mich haben wollte, dann konnte sie mich mitnehmen.

Damals erließ die türkische Regierung gerade ein neues Gesetz, wonach armenische Kinder, die bei türkischen Familien lebten, an ihre armenischen Verwandten – Mütter, Schwester, Brüder oder Vetter und Cousinen – zurückgegeben werden sollten, wenn diese rechtmäßige Ansprüche geltend machen konnten. Das geschah in guter Absicht; aus jedem Bösen erwächst auch etwas Gutes.

Also zog mir meine Ana ein schönes Seidenkleid und rote Schuhe an. Gemeinsam mit ihrem Mann brachte sie mich in das Dorf Tsack. Wir ritten auf einem Pferd. Ich saß zusammen mit meiner Mutter im Sattel, ihr neuer Ehemann führte das Pferd. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Reise gedauert hat. Wir kamen in der Abenddämmerung in dem Dorf an, zufällig war es der Tag vor Ostern. Alle Menschen aus dem Dorf kamen, uns zu begrüßen, sie brachten selbstgemachte Leckereien, das armenische Brot Cheoreg, Käse, Eier und Kharma, gekochtes Lamm. Wir hatten ein wunderbares Abendessen. Was für ein Fest! Alle hier waren Armenier und ich verstand kein Wort armenisch.

Am nächsten Tag kehrten meine Ana und ihr Ehemann wieder in ihre Heimatstadt Agin zurück. Ich weinte ihnen lange nach. Ich wollte mit ihnen zurück reiten. Doch ich blieb, ich musste bleiben. Der einzige Mensch, den ich kannte, war meine Cousine Joovar.. Wohin sie auch ging, ich hing an ihrem Rockzipfel. Dann war da noch Siranoush (ihre Halbschwester) und Boghos, der Neffe ihres Mannes.

Siranoush mochte mich nicht, sie nannte mich immer die „Türkin“, weil ich nicht armenisch sprach. Innerhalb von sechs Monaten begann ich aber armenisch zu lernen und zu sprechen. Wir besuchten eine armenische Schule im Dorf und ich fand dort viele Freunde. In diesem Dorf gab es nur Frauen und Kinder, keine Männer. Ich kann mich nicht erinnern, je eine Hochzeit oder die Geburt eines Kindes erlebt zu haben. Wir Überlebende waren Waisenkinder des Massakers.“

Mein Vater konnte eine ähnliche Geschichte erzählen. 1988 erschien ein Artikel über die Thesen eines gewissen Justin McCarthy, eines revisionistischen Historikers, der den Völkermord an den Armeniern bestritt. Vielleicht, weil es zeitlich mit den schrecklichen Erdbeben in Armenien zusammenfiel, reagierte mein Vater. Er kannte die Ideen McCarthys und entschloss sich, dem Autor einen Brief zu schreiben:

Lieber Herr McCarthy,

Mein Name ist John Mirak. Ich wurde 1907 in Arabkir in der Türkei geboren. Der Wohnort meiner Familie war ein Dorf in der Nähe von Arabkir. Da es in der Umgebung viele Dörfer gab, wurde 1914 im Stadtzentrum ein großes Schild aufgehängt, das besagte, die türkische Regierung werde in etwa sechs Monaten Krieg führen. Alle Armenier wurden aufgefordert, ihre Waffen abzugeben, damit in unserem Gebiet Frieden herrsche. Die Armenier folgten diesem Befehl. Einige Zeit war vergangen, als um das Jahr 1915 herum eine Gruppe türkischer Soldaten in das Dorf geritten kam und alle gesunden und kräftigen Männer, darunter auch mein Vater, sowie die Priester und die Lehrer zusammentrieben, sie fesselten und mit ihnen aus dem Dorf heraus marschierten, etwa zehn Meilen weit, bis zum Fluss Euphrat. Einige haben sie getötet, die anderen ertränkt. Das war das so genannte Erste Massaker.

Das Zweite Massaker fand etwa sechs Monate später statt. Sie trieben alle Jungen, Mädchen und Frauen, die 12 Jahre oder älter waren, zusammen, führten sie etwa sechs Meilen aus der Stadt heraus und brachten sie um. Darunter waren auch Verwandte von mir und meine Vettern und Cousinen.

Zum Dritten Massaker kam es Mitte 1916. Dieses Mal waren alle alten Menschen, Männer, Frauen und die Kinder an der Reihe. Sie trieben sie zusammen, schlossen sie vier Tage lang in der Kirche ein und brachten sie am fünften Tag ins Stadtzentrum. Ich lief in unser Haus, das knapp 100 Meter entfernt war. Wenn man ins Haus kam, traf man auf meine Großmutter, die sehr krank auf einer Couch lag. Ich lief in den Stall hinter dem Haus und versteckte mich dort. Ich hörte, wie Topal Nury kam und meine Großmutter fragte, wo ich wäre. Sie antwortete, sie hätte mich nicht gesehen, also ging er fort. Topal Nury war der leitende Henker der ganzen Gegend in diesem Teil der türkischen Provinz. „Topal“ ist das türkische Wort für „lahm“, es muss also ein Spitzname gewesen sein.

Das letzte Massaker fand nicht einmal eine Meile von der Stadt entfernt statt. Weil die Menschen nicht weitergehen konnten, wurden alle an dieser Stelle umgebracht. Ungefähr einen Monat später war ich mit unserer Nachbarin, einer türkischen Frau, in der Nähe des Dorfplatzes. Topal Nury kam auf einem Pferd geritten, packte mich und schrie: „Du bist der, der entkommen ist.“ Da sah ihn die türkische Frau an und schrie zurück: „Habt Ihr denn noch nicht genügend Menschen umgebracht? Warum lassen Sie den Jungen nicht in Frieden, damit er sich um seine sterbende Großmutter und seinen kleinen Bruder, einen Säugling, kümmern kann?“ Also ließ er mich in Ruhe. Eine Woche später starb meine Großmutter. Ich fragte den Ehemann dieser Nachbarin, ob er mir helfen könne, sie zu begraben und er war so freundlich, auf unserem Grundstück ein Loch auszuheben und sie zu begraben. Noch eine Woche später musste ich wieder zu ihm und ihn bitten, meinen kleinen Bruder zu begraben; er war noch nicht einmal ein Jahr alt, als er verhungerte. Jetzt war ich der einzige verbleibende Armenier im Dorf. Eine andere freundliche türkische Frau, die Mitleid mit mir hatte, nahm mich auf und gab mir zu essen. Ich arbeitete mehrere Monate lang für sie.

Dann kam das Jahr 1917. Damals wurde ein Gesetz erlassen, wonach kein Türke ein armenisches Kind gegen dessen Willen behalten durfte. Eines Tages erschien plötzlich meine Tante, die ihre drei Kinder suchte, die beim Dritten Massaker umgebracht worden waren. Sie hörte, dass ich am Leben war und kam, um mich mitzunehmen. Ich hatte Angst, die türkische Frau zu verlassen, aber sie sagte, ich solle mich nicht fürchten und mit meiner Tante gehen. Wir gingen dann den ganzen Tag und die Nacht zu Fuß, bis wir Arabkir erreichten. Dort angekommen, fanden wir zwei andere armenische Frauen. Das einzige Essen, das wir hatten, kam einmal in der Woche von Near East Relief, der aus Amerika finanzierten Hilfsorganisation für den Nahen Osten. Gewöhnlich ging ich hin und bekam eine Portion Weizen für zwei Personen; damit konnten wir die Woche überstehen. Der für diese Hilfsorganisation zuständige Mann war ein Herr Knapp. Für uns alle war er ein Gott.

Wir blieben fast ein Jahr in Arabkir. Ich hatte entfernte Verwandte in der syrischen Stadt Aleppo. Wir schrieben ihnen und sie halfen uns, mit einer Karawane dorthin zu gelangen. Wir lebten ungefähr ein Jahr bei ihnen. Dann musste ich in ein Waisenhaus, meine Tante blieb bei den Verwandten. Ihr Mann, mein Onkel also, lebte in Boston, in Amerika. Er war 1912 [nach Amerika] gekommen. Sie schrieb ihm schließlich, berichtete ihm über unser Schicksal, und mit seiner Hilfe gelangten wir nach Amerika. Am 20. Januar 1921 kamen wir auf Ellis Island in New York an.

Herr McCarthy, ich bin gerne bereit, ihre gesamten Reisekosten zu übernehmen, wenn Sie mit mir gemeinsam nach Arabkir in mein Dorf reisen, damit ich ihnen unsere Schule und unsere Kirche zeigen kann – wenn die Überreste noch da sind – sowie das Haus der freundlichen türkischen Frau, die mir damals das Leben gerettet hat. Ich würde ihnen auch die Namen unserer damaligen türkischen Nachbarn geben. Ich werde Sie mit zu meinem benachbarten Elternhaus nehmen und ihnen die Überreste zeigen, und wenn der wunderbare Boden in unserem Hof noch da ist, dann werde ich die Erde entfernen und ihnen die Gebeine meiner Großmutter und meines kleinen Bruders zeigen, damit sie nicht behaupten, alles wäre erfunden.“


Mein Vater schloss seinen Brief mit dem Versprechen, er werde in dem Fall, daß er den Historiker – den er einen „Heuchler erster Güte“ nannte – nicht davon überzeugen könne, dass es wirklich einen Völkermord an den Armeniern gegeben habe, eine Million Dollar an eine Wohltätigkeitsorganisation spenden, die McCarthy aussuchen könne. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters meines Vaters und bestimmter anderer Erwägungen verblieb dieser Brief bei den Papieren, die ich erst nach seinem Tode gefunden habe. Aber die Aussage war eindeutig.

Die Berichte meiner Mutter und meines Vaters machen zwei Dinge deutlich. Zum ersten: den Völkermord an den Armeniern hat es wirklich gegeben. Kein Kind könnte solche Horrorgeschichten erfinden. Weitere Augenzeugenberichte des Schweizers Jakob Künzler aus Urfa oder von Dr. Johannes Lepsius aus Konstantinopel, sowie die jetzt veröffentlichten Unterlagen aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, bestätigen die Details. Zum zweiten: das tragische Geschehen war kein Ausdruck von anti-armenischem Rassismus „des türkischen Volkes“. Hätte der besagte türkische Schäfer damals nicht den armenischen Säugling unter all den Leichen wimmern gehört und das Kind mit in die Moschee genommen oder hätte die Türkin Gulnaz den Hilferuf des Kindes nicht als ein Zeichen Allahs angesehen, dann wäre ich nicht am Leben und könnte Ihnen heute nichts darüber erzählen. Ich wäre nie geboren worden, hätte eine Türkin dem Gendarmen Topal Nury nicht befohlen, meinen Vater in Ruhe zu lassen, und hätte eine andere Türkin ihm nicht zu essen gegeben und ihm Unterschlupf gewährt.

Lepsius, Künzler und andere beschreiben auch viele Fälle, in denen Türken geltendes Recht missachtet und armenische Waisenkinder aufgenommen haben.

Meine Eltern hatten Glück im Unglück, weil sie von Verwandten nach dem Genozid wiedergefunden und mit Familienangehörigen in den USA zusammengeführt wurden. Meine Mutter und mein Vater waren nur zwei von zigtausenden armenischen Waisenkindern, die gerettet wurden. Künzler und seine Frau haben bis 10,000 Kinder in Sicherheit gebracht, während das Near East Relief und andere Hilfsorganisationen für weitere Tausenden eine Zukunft gesichert haben.

Diejenigen die geblieben sind

Aber es gab dazu zehntausende – oder hundertausende? – Armenier, vor allem Mädchen und junge Frauen, die ihre Familien nie wieder getroffen haben. Sie waren „diejenigen, die in der Türkei geblieben sind,“ wie es im Titel des schönen Buchs von Rubina Peroomian heißt. Wie Richard Hovannisian dokumentiert hat, haben viele türkische Familien die aufgenommenen jungen Armenier auf dem Feld arbeiten lassen, was auch ihre Nachkommen tun. Natürlich wurden viele gezwungen, zum muslimischen Glauben zu konvertieren und sich „türkisieren“ zu lassen; aber in vielen Fällen geschah dies auch, um die Waisen vor den türkischen Behörden zu schützen. Die Geschichten der Türken, Kurden und anderen, die armenische Kinder gerettet haben, sind nur mündlich überliefert, durch die Erinnerungen der Überlebenden. Aber es reicht aus, um zu zeigen, wie Hovannisian schreibt, daß „es auch inmitten der Grausamkeit und des Leidens Liebenswürdigkeit und Trost gab, und daß die Menschlichkeit nie völlig ausgelöscht wurde.“(1)

Es blieben Mädchen und Frauen, die mit türkischen Männer verheiratet wurden und Familien gegründet haben. Deren Kinder haben wiederum Familien gegründet und ihre Kinder sind die Menschen der Türkei, die heute ihre armenische Großmutter entdecken. Sie reden darüber, schreiben Memoiren und nehmen an Projekten teil – sogennante Oral History Projekte (mündlich überlieferte Geschichte) – die die persönlichen Erfahrungen dieser „dritten Generation“ sammeln und für ein breites Publikum zusammenstellen.

Ein solches Projekt, vom deutschen Außenministerium finanziert, hat das Institut für Internationale Zusammenarbeit Des Deutschen Volkhochschul-Verbandes (dvv international) organisiert und durchgeführt. „Speaking to One Another: Personal Memories of the Past in Armenia and Turkey“ heißt das Buch, das etwa 50 Interviews mit Personen aus der Republik Armenien und in der Türkei zusammengestellt hat. Es waren 20 Universitätsstudenten, aus Armenien und der Türkei, die an einem Vorbereitungskurs mit Sozialwissenschaftlern des Projekts teilgenommen haben, um zu lernen, wie man Interviews für das Projekt macht. Zwischen Oktober 2009 und Februar 2010 haben die jungen Forscher Gespräche über 1915 mit Armeniern und Türken geführt, – das heißt, über das, was die Enkelkinder von Familienmitgliedern über 1915 erfahren haben.

Informationen von den damaligen Ereignissen zu bekommen, war nicht einfach. Die geretteten Kinder hatten ein Trauma erlebt und deswegen war es normal, daß sie darüber nicht reden wollten oder konnten. Fast immer hatten die Überlebenden versucht, die eigene Kindheit zu verheimlichen. Wie Fethiye Çetin erzählt, war ihre Großmutter schon sehr alt und dem Tode nahe, bevor sie sich entschied, ihrer Enkeltochter über ihre Kindheit zu erzählen. Dieser Prozeß zog sich über eine lange Zeit hin, und nur langsam, Schritt für Schritt, konnte die alte Frau die Episoden aus den Kriegsjahren mitteilen. Die dvv-Studie bestätigt, daß die meisten Quellen Frauen waren, weil „es weniger Männer unter den Überlebenden gab“ und die wenigen Männer größere Schwierigkeiten hatten, sich mitzuteilen.(2)

Ein Interviewter Arif, 45 Jahre, erzählte (Fethiye Çetin und Ayse Gül Altinay): meine Großmutter „hat nie etwas über ihre persönliche Geschichte gesagt. Das einzige was man wusste, war, daß sie einen religiösen Mann geheiratet hatte, dessen Famile höchste Achtung im Dorf genoß.“ Erst als der junge Knabe seine Großmutter zum Krankenhaus begleitete, hat er auf ihrem Ausweis zufällig gesehen, daß neben ihrem muslimischen Namen noch ein anderer Name – Sogomin – stand und er fragte sie danach. Die Familie wusste also nur, daß sie eine Konvertitin war. „Aber unsere Familie hielt das Geheimnis gut versteckt,“ sagte er. „Ich habe niemandem mitgeteilt, daß meine Großmutter Armenierin war.“(3) Für den kleinen Adil, 1983 in Diyarbakir geboren, kam die Entdeckung, nachdem er die Eltern gefragt hatte: warum habe ich blonde Haare und grüne Augen? Er lernte, daß die Mutter seiner Großmutter, eine 13-jährige Überlebende, namens Sosi, „verkauft“ und verheiratet worden war.(4)

Für viele Enkelkinder ist die Entdeckung ihrer armenischen Wurzeln ein psychologischer Schock. Sie stellt die Identitätsfrage schonungslos und direkt. Gülcins Vater hatte eine armenische Mutter. Als Witwe mit einem kleinen Kind nach 1915 wurde sie mit einem Türken zwangsverheiratet. Da sie sich verweigert hatte zu konvertieren, wurde sie aus seinem Haus verwiesen. Ihre Enkeltochter Gülcin hat von der Mutter die Wahrheit erfahren. Es hat 10 Jahre gedauert, bis sie sagen konnte: „Ich bin zu dem Schluss gekommen, daß wenn meine Großmutter Armenierin war, dann bin ich es auch. Lange Zeit waren für mich nur die Onkeln, und mein Vater Armenier. Dann bin ich es geworden.“(5) Ayhan, dessen Großvater überlebte und bei kurdischen Stämmen wohnte, hatte einen muslimischen Namen angenommen. Als Ayhan nach Istanbul umzog, lernte er Türkisch und dann in einer Ferienkolonie Armenisch. Was war seine Identität? „Zu Hause,“ sagte er, „sind wir Kurden, wir reden kurdisch. Zweitens sind wir Türken in der Schule, dort sprechen wir Türkisch. Und drittens sind wir in der Ferienkolonie Armenier, wir sprechen Armenisch.“(6) Selin, dessen Großvater armenisch war, lebt mit der Familie in Istanbul. Ihre Eltern haben den Kinder nie Armenisch beigebracht, aber sie fühlte sich armenisch und auf der Frage, ob sie Türkin sei, antwortete sie, „Ich bin Türkin armenischer Herkunft.“ Nach dem Mord an Hrant Dink sagte sie: „Früher war ich ‚Türkin armenischer Herkunft‘, jetzt bin ich Armenierin.“ (7)

Durch die Entdeckung der armenischen Wurzeln haben die Enkelkinder natürlich die Eltern und Großeltern gefragt, was denn mit den Armeniern passiert sei? Für einige war es zu schmerzhaft, darüber zu sprechen, andere erzählten grausame Details: die eine Frau, mit einem Türken zwangsverheiratet, hatte alle ihre Kinder als Neugeborene erwürgt, die andere musste während der Deportation ein Kind zurücklassen und wurde von der Erinnerung bis zur ihrem Todestag gequält. Väter und Grosväter haben zugegeben, daß armenische Männer massenhaft umgebracht wurden, usw.

Aber bei all dem Gräuel gab es auch die Erinnerung an die Zeit vor 1915, als Armenier und Türken friedlich zusammengelebt hatten; man kannte die armenischen Kirchen und bei Osterfesten und Ramadan hatten die beiden Völkergruppen miteinander gefeiert. Wenn gefragt, warum die Armenier geopfert worden waren, kam oft die Antwort, daß sie mit den Russen gegen die Türkei im Krieg gekämpft hätten, also „Verräter“ gewesen wären. Oder oft kam die verzweifelte Antwort, „Das weiss ich nicht.“

Diese zentralen Fragen, die von der Enkelkind-Generation gestellt werden, sind nicht nur an die Eltern, sondern implizit auch an die türkischen Behörden gerichtet. „Wer bin ich? Warum wussten wir nicht, daß wir armenische Vorväter hatten? Was ist den Armeniern 1915 passiert? Und warum?“ Gleichzeitig werden einige armenische Kirchen restauriert, zahlreiche konvertierte armenische Muslime lassen sich dort taufen und ab und zu werden Gottesdienste erlaubt. Kurzum: in der Türkei entdecken immer mehr Menschen ihre ethnischen Wurzeln; und dieser langsame, aber wachsende soziologische Prozeß hat das Potential, das gesamte Gefüge der offiziellen Leugnungspolitik auseinanderzureißen. Hier geht es nicht mehr darum, daß Historiker den Völkermord durch Belege dokumentieren. Vom Standpunkt der historischen Forschung sind die Fakten längst eindeutig. Das türkische Establishment kann die Forschungsergebnisse weiter bestreiten. Aber hier haben wir es mit persönlichen Familiengeschichten zu tun, die nicht mehr von Armeniern in der Diaspora, sondern von türkischen Staatsbürgern stammen.

Wie kann die „Großmutter-Debatte“ dazu beitragen, daß die Türkei mit der eigenen Vergangenheit ins Reine kommt? Der führende türkische Genozidforscher Taner Akçam hat in seinem Buch, From Empire to Republic: Turkish Nationalism and the Armenian Genocide, einen Einblick in das Problem vermittelt.(8) Wie Hrant Dink betrachtet Akçam das Problem der Leugnung als psychologisches Phenomän, als eine Art nationale Krankheit, und betont, man muss verstehen, warum es zum Völkermord kommen konnte. Er stellt die Untersuchung in den Zusammenhang des Zerfalls des osmanischen Reiches, der Verlust von Territorium und Bevölkerung brachte. Er beschreibt diese Periode als eine von vielen traumatischen Ereignissen in der Geschichte der Türkei der letzten 150 Jahre, die Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, Demütigung und Angst hervorgerufen haben. Er sieht den Völkermord als Teil eines Versuches, den Prozeß des Zerfalls des Reiches zu stoppen. Dieser Prozeß sowie auch der Völkermord seien in der offiziellen Geschichtsschreibung verdrängt worden und die Leugnungspolitik ist ein Resultat davon. Darüber zu reden, vor allem über den Genozid, ist ein Tabu geworden und jeder Hinweis darauf löst immer noch hysterische Reaktionen aus. Für Akçam verlangt eine „gesellschaftliche Therapie“ Erinnerungsarbeit als Basis der historischen Forschungen. Dies sei notwendig, um die Kluft zwischen der offiziellen Geschichtsschreibung und dem kollektiven Gedächtnis der Türken zu überbrücken.

Es sind genau die Familiengeschichten von türkischen Staatsbürgern mit anderen ethnischen Wurzeln, die das kollektive Gedächtnis ausmachen. Nun werden die persönlichen Erinnerungen Teil einer öffentlichen Debatte in der Zivilgesellschaft. Seit der Veröffentlichung des Buches von Fethiye Çetin und seit dem Mord Hrant Dinks beschäftigt sich die Zivilgesellschaft mit der Armenienfrage unter einem ganz neuen Licht. Wie all die Personen – seien es Armenier, Türken oder Kurden – die über die eigene Familiengeschichte interviewt wurden, gesagt haben: das Buch Meine Großmutter „hat mich berührt,“ „ist ein mutiger Schritt,“ oder ähnliches. Fethiye Çetin und Hrant Dink haben beide in der Bevölkerung der Türkei einen wunden Punkt getroffen; sie haben die Herzen der Menschen geöffnet und es ermöglicht, über das nationale Tabu zu reden. Egal was die offizielle Türkei meint oder tut: das Tabu ist gebrochen. Es ist sogar salonfähig geworden, darüber zu sprechen.

In meinem Buch habe ich argumentiert, daß eine Verständigung und Versöhnung zwischen Armeniern und Türken nur durch eine Revolution im Denken, eine grundsätziche Änderung der moralischen Einstellung, möglich wäre. Der Titel des Buches stammt aus einer Episode in Dantes Göttlichen Komödie, am Ende des Läuterungsbergs, wo der Dichter-Pilger eine Feuerwand durchschreiten muss, wenn er ins Paradies erlangen will. Er kann es nur schaffen, wenn er alle Ängste überwindet und nicht mehr nur an sich denkt sondern an den Anderen.
Diese Episode ist der Wendepunkt in der Göttlichen Komödie. Ich zitiere sie hier als passende Metapher für die enorme Herausforderung, vor der die Armenier und Türken stehen. Genauso wie der Dichter sind sie gefordert, die Ängste der Vergangenheit zu überwinden, Hass, Wut, Arroganz, Rachgier und vor allem jeden missverstandenem Konzept des Nazionalismus abzulegen. Für den Türken geht es darum, den Mythos vom „Türkentum“ zu überwinden, um der historischen Wahrheit ins Gesicht zu sehen, ohne die eigene Identität als Mensch zu verlieren.

Das ist eine enorme Herausforderung. Wie Akçam schreibt, wurde das Konzept des Türkentums zum ideologischen Eckpfeiler der Republik erklärt. Die türkische Identität als ethnische Kategorie machte alle Türken und türkische Völker zu Brüdern. Dabei wurden Armenier und Kurden u.a. zu Fremden oder gar Ausländern abgestempelt. Aber wenn hundertetausende – oder sogar zwei Millionen -- türkischer Staatsbürger andere ethnische Wurzeln entdecken, was dann? Wie können Schüler und Schülerinnen den Schultag damit beginnen, daß sie rezitieren:
„Daß meine Existenz ein Geschenk für die türkische Existenz sei....“
„Der ist glücklich, der sagt, ich bin Türke.“

Was bedeutet es dann, Türke zu sein?
In den letzten Jahren hat es verstärkt eine Debatte über eine Wiederbelebung des Osmanismus, den so-gennanten neo-Osmanismus, gegeben. Normalerweise meint man damit eine Wiederbelebung und Verstärkung der politischen Beziehungen zu den Nachbarländern, die einmal Teil des osmanischen Reiches gewesen waren. Wenn damit gemeint ist, daß eine gesunde Identität der Staatsbürgerschaft der Türkei in der Anerkennung der Tatsache begründet liegt, daß das osmanische Reich, wie die Türkei heute, eine multi-ethnische Gesellschaft ist, ist man sicherlich auf dem richtigen Weg. Die Multi-ethnizität der Bevölkerung in der Türkei ist eine unleugbare Tatsache. In ihr einen Schatz und Reichtum zu erkennen und keine Bedrohung, ist ein Schlüssel zur Überwindung des "Konstrukts Türkentum".

Die Jugend in der arabischen Welt hat eine Revolution ausgelöst, die zu neuen Staatsformen führen wird. In der Türkei sind es die Enkelkinder der Katastrophe von 1915, die zu eine Veränderung der staatlichen Identität und damit zu neuer Hoffnung für die Nation fuehren wird.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.



1. Richard Hovannisian (Hrsg.), „Intervention and Shades of Altruism During the Armenian Genocide,“ The Armenian Genocide, History, Politics, Ethics, St. Martin’s Press, New York, 1992, S. 26.
2. Leyla Neyzi und Hranush Kharatyan-Araqelyan, Speaking to One Another: Personal Memories of the Past in Armenia and Turkey, “Adult Education and oral History Contributing to Armenian-Turkish Reconciliation,” Institut für Internationale Zusammenarbeit Des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (ddv international), Istanbul, 2010, S. 128.
3. Ayse Gül Altinay und Fethiye Çetin, Les Petits-Enfants, Actes Sud, 2011, S. 55-57.
4. Neyzi, Op. cit., p. 35.
5. Gül, S. Op. cit., 83.
6. Neyzi und Kharatyan, op. cit., S. 57.
7. Ibid., S. 55.
7. Taner Akçam, From Empire to Republic: Turkish Nationalism & the Armenian Genocide, Zed Books Ltd., London, 2004, S. 208-253.