FAZ: Was zwischen Türken und Armeniern zu klären ist

19.04.2010, F.A.Z., Briefe an die Herausgeber (Politik), Seite 9 -
Zu "Das Letzte, was ich von den Kindern sah" (F.A.Z. vom 3. April): Als Tochter zweier armenischer Waisenkinder, beide Opfer des Genozids der Jahre 1915 bis 1916, kann ich mich nur freuen, dass nach fünfundneunzig Jahren diese Tragödie in den deutschen Medien endlich ernsthaft thematisiert wird. Es überrascht mich allerdings sehr, dass der Inhalt des NDR-Dokumentarfilms "Aghet" als große Entdeckung dargestellt wird.
Tatsächlich sind die Unterlagen des deutschen Archivs des Auswärtigen Amts aus dem Ersten Weltkrieg seit 1993 intensiv durchforstet und ausgewertet worden. Im Jahr 2005 hat der ehemalige "Spiegel"Journalist Wolfgang Gust die wichtigsten Dokumente zu den Ereignissen in einem bahnbrechenden Geschichtswerk zusammengetragen. Sie lassen nur einen Schluss zu: Die Führung des deutschen Militärs und des Deutschen Reichs waren über die Genozid-Politik der Jungtürken bestens informiert. Aus machtpolitischem und militärstrategischem Kalkül wurde nicht nur weggeschaut, sondern man gab dem Verbündeten am Bosporus freie Hand. Die Aufarbeitung des Genozids an den Armeniern ist also nicht nur eine türkische, sondern auch eine deutsche.
Die armenischen Kinder wurden Gott sei Dank nicht alle ermordet. Laut Jakob Künzler, der in Urfa tätig war, haben bis zu 12 000 armenische Waisenkinder überlebt. Meine Mutter überlebte das Massaker von Frauen und Kindern in der Nähe von Arabkir, weil sie von einem türkischen Hirten lebendig unter einem Berg von Leichen gefunden und in Sicherheit gebracht wurde. Ein türkisches Ehepaar hat sie aufgenommen und gepflegt. Ihre Geschichte, wie die meines Vaters, der durch die Hilfe mehrerer türkischer Frauen gerettet wurde, dokumentiert, dass es keine Kollektivschuld gibt: Der Genozid an den Armeniern wurde von einer relativ kleinen jungtürkischen Clique und deren Sonderorganisation verübt. Internationale Unterstützung kam von den deutschen Verbündeten sowie von geopolitisch denkenden Kreisen in Frankreich und England, die das Osmanische Reich aufteilen wollten. Zahlreiche Geschichten von Überlebenden zeigen, dass viele normale türkische Bürger armenische Kinder aufgenommen und gerettet haben, oftmals unter Einsatz ihres Lebens.
Wer verstehen will, warum sich die türkische Regierung und Gesellschaft mit dieser Frage so schwer tut, sollte folgendes berücksichtigen: Die Jungtürken wurden zwar im Jahr 1919 in Abwesenheit verurteilt, aber später bei der Gründung der modernen türkischen Republik unter Atatürk wieder rehabilitiert. Es wurde unter Strafe gestellt, das "Türkentum" zu beleidigen. Dazu zählte auch jeder Hinweis auf den Völkermord. Doch solche Tabus sind brüchig geworden in der Türkei, aber auch unter türkischstämmigen Mitbürgern in Deutschland. Ich habe mehrmals hier in Deutschland persönlich erfahren, dass sie die Wahrheit wissen wollen. Einige studieren das Buch von Wolfgang Gust oder gehen selbst in die Archive. Dann begreifen sie, was wirklich geschehen ist. Die geschichtlichen Lehrbücher an türkischen und deutschen Schulen geben jungen Schülern noch keine Chance, die Wahrheit zu erfahren. Aber selbst Hasan Djemal, ein Enkel von Djemal Pascha, einem Mitglied im "Dreierrat" der Jungtürken, ist durch seine eigenen Recherchen zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Völkermord gehandelt hat.
Wenn die historischen Fakten allen Bürgern zugänglich gemacht werden, wird der Weg frei für die eigentliche Herausforderung: für den Prozess der Versöhnung zwischen Türken und Armeniern.

MURIEL MIRAK-WEISSBACH, MAINZ-KASTEL